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Dr. Thomas Lehnert, wissenschaftlicher Referent der Christoph Lohfert Stiftung, fasst zusammen:
Die Diagnose Krebs ist ein einschneidendes Ereignis im Leben vieler Menschen und geht mit einer Reihe psychischer Auswirkungen einher, darunter Angstzuständen. Diese Angst kann verschiedene Formen annehmen, zum Beispiel Sorgen um die Prognose, die Wirksamkeit der Behandlung, die Auswirkungen auf das tägliche Leben und die Familie sowie die Möglichkeit von Rückfällen (1). Ein möglichst detailliertes Verständnis der Ursachen und Entwicklung dieser Angstsymptomatik während der medizinischen Behandlung von Krebspatient:innnen stellt die Grundlage für Verbesserungen der onkologischen Versorgung dar. Das Auftreten und die Entwicklung der Angstsymptomatik unter onkologischer Patient:innen in der Viszeralchirurgie hat eine kürzlich veröffentlichte Studie nun untersucht.
Der Großteil aller Krebspatient*innen wird im Laufe der Erkrankung operiert (2). Die Entscheidung für oder gegen eine Operation hat einen wesentlichen Einfluss auf den weiteren Verlauf der Erkrankung (3). Viele Patient:innen die sich einer Operation unterziehen leiden unter sogenannter perioperativer (präoperativer) Angst (4, 5). Diese umfasst beispielsweise Angst vor der Operation selbst, Angst vor Komplikationen während oder nach der Operation, sowie Angst vor den Auswirkungen der Krebsbehandlung selbst. Studien haben die negativen Folgen perioperativer Angst auf das Auftreten von Komplikationen, die Verweildauer im Krankenhaus, gesundheitsbezogene Lebensqualität, als auch den weiteren Verlauf der Krebserkrankung nach einem chirurgischen Eingriff aufgezeigt (5, 6).
Perioperative Angst ist ein häufiges Phänomen bei Krebsoperationen und vielen weiteren chirurgischen Eingriffen, das die Genesung und das Wohlbefinden von Patient:innen negativ beeinträchtigen kann. Ein möglichst genaues Verständnis der Ursachen und Entwicklung dieser Angstsymptomatik während der medizinischen Versorgung onkologisch-chirurgischer Patient:innen stellt daher eine wichtige Voraussetzung dar, um den Betroffenen gezielt Maßnahmen zum Umgang mit- und der Reduzierung der perioperativen Angst anzubieten. Eine aktuelle, im Journal of Cancer Research and Clinical Oncology veröffentlichte multi-zentrische Beobachtungsstudie von Harms et al. (2023) untersucht die perioperative Angst in einer Kohorte onkologischer Patient:innen in der Viszeralchirurgie während verschiedener Phasen des stationären Aufenthaltes (7).
Die Anfänge der Studie reichen zurück ins Jahr 2016, als der Studienleiter und Erstautor Dr. Jens Harms auf das „Das Medizinische Prinzip“ von Dr. Christoph Lohfert, Stifter der Christoph Lohfert Stiftung, aufmerksam wurde und ein Studienkonzept entwickelte (8). Ziel war die engmaschige Messung der subjektiv empfundenen Angst onkologischer Patient:innen in der Viszeralchirurgie zu unterschiedlichen Zeitpunkten ihrer (stationären) Behandlung und die Identifikation sozio-demographischer und krankheitsbezogener Prädiktoren für ein gesteigertes Angstempfinden. Zudem sollten modifizierbare Bewältigungsstrategien innerhalb dieser Patient:innengruppe erforscht werden. Nach Befürwortung des Studiendesigns durch die beteiligten Projektparter:innen und die zuständige Ethikkommission der Medizinischen Hochschule Hannover (MHH, no. 3365-2016), wurden ab Oktober 2016 Teilnehmer:innen rekrutiert. Einschlusskriterien waren ein Mindestalter von 18 Jahren, die geplante operative Entfernung (Resektion) eines bösartigen, gastrointestinalen Primärtumors während des stationären Aufenthaltes mit vorherigem Ambulanzkontakt (keine Notfälle und Zufallsbefunde) und volle Einsichts-, Handlungs- und Einwilligungsfähigkeit.
Immer noch aktuell: Das Medizinische Prinzip von Christoph Lohfert
Daten wurden in vier, durch die Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) akkreditierten Behandlungszentren größerer, nicht akademischer Krankenhäuser in Niedersachsen, Sachsen-Anhalt und Hessen erhoben. Verschiedene validierte Messinstrumente wurden verwendet, um Angst/Anxiety (GAD-7), Depressivität (PHQ-7), Sorgen (NCCN Distress thermometer), Krankheitswahrnehmung (BIPQ), sowie sozio-demographische und krankheitsbezogene Informationen (z.B. Alter, Geschlecht, Bildung, Beziehungsstatus, Krebsart, UICC-Stadium) an vier Zeitpunkten während der chirurgischen Behandlung zu erheben:
Die aktuelle Leitlinie Psychoonkologie empfiehlt eine umfassende Bewertung, d.h. ein systematisches und regelmäßiges Screening auf Angstsymptome bei Krebspatient:innen während des gesamten Krankheitsverlaufs und benennt hierfür spezifische Fragebögen und Instrumente.
Insgesamt wurden 101 Patient:innen, 39 Frauen und 62 Männer, in die Studie eingeschlossen und deren Daten analysiert. Das durchschnittliche Alter der Teilnehmer:innen lag bei 68,6 Jahren (38-89 Jahre); der Großteil hatte hatte Darmkrebs (n=85), seltenere Diagnosen waren Bauchspeicheldrüsenkrebs (n=6), Magenkrebs (n=4) und Speiseröhrenkrebs (n=3). Bezüglich der postoperativen Einteilung auf Basis des Systems der Internationalen Vereinigung gegen Krebs (UICC), fiel fast die Hälfte (45,9%) der Patient:innen ins Stadium 1 (kleine lokale Tumoren ohne Lymphknotenbefall), während ein ähnlicher Anteil (44,9%) Tumore entsprechend UICC-Stadium 2-3 (lokale Tumoren jeder Größe ohne Lymphknotenbefall) aufwies.
Mehr als die Hälfte der Patient:innen leidet vor einer Tumoroperation unter Angstzuständen
Mehr als die Hälfte der Studienteilnehmer:innen (n=61; 56%) berichtete während des Beobachtungszeitraumes von Ängsten. Fünf Patient:innen hatten eine schwere Angstsymptomatik mit GAD-7 Werten >15, während bei 56 Teilnehmer:innen eine milde bis mittelgradig ausgeprägte Angstsymptomatik vorlag, d.h. GAD-7 Werte zwischen 5-15 zu mindestens einem Erhebungszeitpunkt. Zudem deuten die Ergebnisse auf eine dynamische Entwicklung des Angstempfindens während der Behandlungsphasen hin. Am stärksten war die Angstsymptomatik zu den Zeitpunkten t1 und t3, also beim perioperativen Initialkontakt und postoperativen Termin vor der Entlassung aus dem Krankenhaus. Am niedrigsten waren die Werte zum letzten Erhebungszeitpunkt t4, dem ambulanten Nachsorgekontakt 30 Tage nach Entlassung aus dem Krankenhaus. Statistische signifikante Unterschiede zwischen der Stärke der Angst fanden sich nur für den Vergleich der Erhebungszeitpunkte t1 und t4.
Angst entwickelt sich während der peri- und postoperativen Phasen dynamisch - Frauen und jüngere Patient:innen sind tendenziell stärker betroffen
Mit Hilfe multivariater Regressionsmodelle wurde der Einfluss diverser Faktoren auf die Angstsymptomatik zu den Zeitpunkten t1 und t3 untersucht. Statistisch signifikante Prädiktoren zum Zeitpunkt t1 waren „psychische Belastungen“ und „Depressivität“ (p<0.001). Psychische Belastungen, Depressivität und Angst zum Zeitpunkt t1 besaßen jedoch keine Vorhersagekraft für Ängste zum Zeitpunkt t3. Ebenso war keine der berücksichtigten sozio-demographischen Variablen im multiple Regressionsmodell zur Vorhersage der Angstsymptomatik zum Zeitpunkt t3 signifikant. Unabhängig vom Messzeitpunkt fand sich eine nicht-signifikante Tendenz für eine stärker ausgeprägte Angst bei jüngeren Patient:innen und bei Frauen. Zusammengenommen zeigen die Ergebnisse, dass mehr als die Hälfte der Studienteilmehmer:innen von einer gesundheitlich problematischen Angstsymptomatik betroffen war und dass sich diese während der peri- und postoperativen Phasen im Zeitverlauf dynamisch entwickelt, wobei Frauen und jüngere Patient:innen tendenziell stärker betroffen sind.
Ausblick: Sie soll nicht den Arzt oder die Ärztin ersetzen, sondern bestmögliche Unterstützung und Empowerment für den Umgang mit der Krankheit geben: Die Online-Plattform PINK! schließt eine psychosoziale Versorgungslücke und befähigt Brustkrebspatientinnen, selbst aktiv zu werden. Der "digitale Coach für die Hosentasche" soll auch für andere (Krebs-)Erkrankungen entwickelt werden.
Interview mit der PINK! Günderin Prof. Dr. Pia Wülfing
Studienergebnisse bestätigen Evidenz aus internationaler Forschung
Die Befunde der Studie von Harms et al. (2023) stehen im Einklang mit vergleichbaren Studien der internationalen Literatur (9-12). So berichtet eine Meta-Analyse aus 28 Studien der internationalen Literatur mit n=14.652 Patient:innen eine globale gepoolte Prävalenz perioperativer Angst (unabhängig von der Art der Operation) von 48% (KI: 39-47%) (11). Es kann vermutet werden, dass die Angstsymptomatik unter Patient:innen die sich einer Tumoroperation unterziehen müssen, aufgrund der lebensbedrohenden Grunderkrankung, besonders stark ausgeprägt ist. Die dynamische Entwicklung der Angst unter den Teilnehmer:innen der vorliegenden Arbeit, mit einer tendenziellen Abnahme der Angst im Laufe der Behandlung, zeigte sich auch in anderen Studien mit stationär behandelten onkologischen Patient:innen (13). Dass die Angstzustände nach der Entlassung aus dem Krankenhaus deutlich abnehmen, legt nahe dass die (erfolgreiche) Operation einen positiven Effekt auf das psychische Wohlbefinden der onkologischen Patient:innen hat.
Signifikante Prädiktoren für ein gesteigertes Angstempfinden waren in der aktuellen Studie psychische Belastungen und Depressivität beim ambulanten Initialkontakt in der stationären chirurgischen Klinik, die jedoch – ebenso wie ein erhöhtes Angstempfinden – keine Vorhersagekraft für ein gesteigertes Angstempfinden zu späteren Erhebungszeitpunkten hatten. Demnach ließe sich durch ein routinemäßiges Screening auf Angstsymptome am Beginn der Behandlung (z.B. mit Hilfe des NCCN Distress thermometer) später auftretende Angst nicht verlässlich vorhersagen. Wenngleich die berücksichtigten sozio-demographischen Variablen in der vorliegenden Studie keinen signifikanten prädiktiven Einfluss auf die Angstsymptomatik hatten, so waren jüngere Patient:innen und Frauen tendenziell stärker betroffen. Diese Befunde decken sich mit Evidenz der internationalen wissenschaftlichen Literatur zu Risikofaktoren und Prädiktoren für ein gesteigertes Angstempfinden vor einem chirurgischen Eingriff. So sind insbesondere Frauen starker von perioperativer Angst betroffen als Männer (9). Diverse weitere Faktoren können die Angstzustände der Patient:innen beeinflussen, beispielsweise das Alter, die Art und Schwere der Erkrankung, die Art und Dauer der Behandlung und die individuelle psychische Verfassung der Patienten (9,11,14,15).
Die Ergebnisse der Studie wurden im Rahmen des 35. Deutschen Krebskongress 2022 in Berlin vorgestellt und am 15. April 2023 online im Journal of Cancer Research and Clinical Oncology unter dem Titel “Anxiety in patients with gastrointestinal cancer undergoing primary surgery (springer.com) als open-access Publikation veröffentlicht (https://doi.org/10.1007/s00432-023-04759-2).
Aktuelle Leitlinie Psychonkologie empfiehlt Screening auf Angstsymptome während des gesamten Krankheitsverlaufs
Persistierende Angstzustände beeinträchtigen die Lebensqualität von Patient:innen und können zu körperlichen und psychischen Problemen führen, was sich negativ auf den weiteren Verlauf der Krebserkrankung auswirken kann (5,6). Daher sind die frühzeitige Erkennung und Abmilderung perioperativer Angst von großer Bedeutung. Die aktuelle Leitlinie Psychoonkologie empfiehlt eine umfassende Bewertung, d.h. ein systematisches und regelmäßiges Screening auf Angstsymptome bei Krebspatient:innen während des gesamten Krankheitsverlaufs und benennt hierfür spezifische Fragebögen und Instrumente (16). Zu den Maßnahmen zum Umgang mit- und der Reduzierung perioperativer Angst gehören insbesondere evidenzbasierte psychotherapeutische Ansätze, beispielsweise kognitive Verhaltenstherapie, Entspannungstechniken, ebenso wie Pharmakotherapie, einschließlich Beruhigungsmitteln und Antidepressiva (16, 17). Weiterhin sollten Patient:innen umfassend und transparent über die Operation und die damit verbundenen Risiken informiert werden, um ihre Ängste und Bedenken zu lindern. Die Leitlinie betont auch die Bedeutung einer kontinuierlichen psychosozialen Unterstützung und Betreuung der Betroffenen, um ihre psychische Gesundheit während des Krankheitsverlaufs zu verbessern und zu erhalten.
Dr. Thomas Lehnert, Hamburg, im Oktober 2023