Projekt
Zeit für einen Zwischenbericht – im Gespräch mit Dr. Markus Rall, Gründer der Deutschen Gesellschaft für Patientensicherheit, und Dr. Viola Sinirlioğlu, Patientensicherheitsbeauftragte der DAK.
Das Webportal ist die erste deutschlandweite, kassenübergreifende Meldestelle, in der alle Versicherten anonym und vertraulich von ihren Erfahrungen im Gesundheitssystem berichten können – insbesondere von Behandlungsfehlern oder Ereignissen, die beinahe zu einem Schaden geführt hätten.
Ziel der beteiligten Krankenkassen ist es, möglichst viele solcher Fälle zu sammeln, sie systematisch auszuwerten und die Erkenntnisse als konkrete Learnings zur Verfügung zu stellen. Zunächst richtete sich das Angebot vor allem an Patient:innen: Sie sollten durch praktische Tipps bestärkt werden, Patientensicherheit einzufordern und auch selbst aktiv umzusetzen.
Inzwischen nutzen aber auch Angehörige der Gesundheitsfachberufe die aufbereiteten Fallberichte. Denn, so erklärt Dr. Markus Rall: "Wir können davon ausgehen, dass kritische Ereignisse hundertfach stattfinden, bevor ein Patient zu Schaden kommt. Und aus diesen 100 kritischen Ereignissen können wir schon lernen."
Finanziert wird das digitale Meldesystem bis Ende 2026 als Pilotprojekt. Beteiligt sind derzeit die Ersatzkassen Techniker Krankenkasse, BARMER, DAK-Gesundheit, KKH Kaufmännische Krankenkasse, Handelskrankenkasse und HEK Hanseatische Krankenkasse sowie ihr Dachverband, der Verband der Ersatzkassen e. V. (vdek). Initiator und Betreiber ist die Deutsche Gesellschaft für Patientensicherheit gGmbH, deren Expert:innen die Berichte auswerten, Tipps aufbereiten und die Kassen bei der Erstellung von Informations- und Lernmaterialien unterstützen.
Für Dr. Viola Sinirlioğlu und Dr. Markus Rall steht fest: Dieses Projekt muss verstetigt werden. Ihr Wunsch ist, dass sich möglichst viele weitere Krankenkassen beteiligen. Ziel ist eine gemeinsame Lernplattform für alle Beteiligten im Gesundheitswesen – Patient:innen wie Leistungserbringer –, auf der möglichst viele Fallberichte zu möglichst vielen Erkenntnissen und damit zu bestmöglicher Sicherheitskultur führen.
[01:53] Dr. Markus Rall und Dr. Viola Sinirlioğlu über ihre Aktionen am Welttag für Patientensicherheit: Vom „Room of Horrors“ im Krankenhaus zu Postings zur Kindergesundheit im Netz.
[04:19] Über Dr. Markus Rall: Rettungssanitäter & Arzt, kümmert sich seit über 25 Jahren um Patientensicherheit - ihn treibt um:
Wie entstehen Fehler in Teams? Es ist selten so, dass die Leute das nicht können, sondern oft liegt es am bisher nicht Trainierten oder an Problemen der Zusammenarbeit - die menschlichen Faktoren spielen eine große Rolle. 70 bis 80 Prozent der Ursachen von Fehlern liegen in dem Bereich.
[05:43] Über Dr. Viola Sinirlioğlu: Ärztin & Gesundheitsökonomin - sie sagt:
Patientensicherheit war immer mein Herzblut-Thema... Für mich ist es wichtig, dass ich in meiner neuen Funktion als Patientensicherheitsbeauftragte bei der DAK und als weiterhin klinisch tätige Ärztin in der Notaufnahme meine Leidenschaft für Patientensicherheit verknüpfen kann mit dem Ziel, Brücken zu bauen zwischen den verschiedenen Bereichen im Gesundheitssystem. Da gibt es noch zu viele Barrieren.
[08:15] Über die Idee hinter dem Portal mehr-patientensicherheit.de
Das Portal soll dazu dienen, die Patientenstimmen zu hören. Es gibt Patienten die Gelegenheit, anonym und niederschwellig und ohne Angst oder Hemmnisse ihren Fall zu melden. ... Wir bekommen die Perspektive der Patienten oder Angehörigen gemeldet, die in der Klinik oder fürs Fachpersonal und auch in den Arztpraxen oft so nicht vorhanden ist. (Markus Rall)
[10:18] 1800 gemeldete Fälle in weniger als zwei Jahren – was passiert damit? Wie erfahren die Menschen, was aus ihrem Fall geworden ist? Über Analyse, Auswertung, Fokusfälle und Tipps
[11:58] Die Perspektive der Patient:innen nutzbar machen: Auswertungen für das Gesundheitspersonal hilfreich – systematischen Nutzung ist Ziel – trotz Zeitknappheit
Zu Beginn des Portals war gedacht, das wir nur Patienten und Angehörige informieren, also Versicherte der Krankenkassen. … Als Weiterentwicklung der Plattform wollen wir jetzt auch die Gesundheitsprofis erreichen, um sie zu informieren, was Patient:innen berichten oder welche Vorschläge sie machen, wie das Fachpersonal reagieren könnte, um die geschilderten Probleme abzufangen. (Markus Rall)
[13:26] Kommunikations-Challenge: Wie erfahren die Menschen – Patient:innen wie Gesundheitsprofis gleichermaßen – von dieser Plattform, wo sie einerseits Behandlungsfehler melden und andererseits aus den Berichten anderer und den entsprechenden Expertenauswertungen lernen können?
Das ist das erste kassenübergreifende Projekt, dass sich in so großem Stil für Patientensicherheit einsetzt. Dadurch ist eine Win-Win-Situation entstanden. Einmal, dass die Kassen für das Thema Patientensicherheit zusammenarbeiten und dass man für Versicherte überhaupt eine Plattform geschaffen hat. ... Aus Fehlern zu lernen, ist das eine. Das andere ist, sich als Fachpersonal aktiv für Patientensicherheit einsetzen und vorbeugend aktiv zu werden. (Viola Sinirlioğlu)
[18:16] Krankenkassen nutzen gemeldete Fehler, um Patient:innen besser auf mögliche kritische Situationen vorzubereiten. Beispiel: Worauf muss ich bei meiner Entlassung aus der Klinik achten? Worauf beim Umgang mit Delir? Dabei hilft auch die Kommunikation über Social Media.
Und das ist noch ein großes Thema: Wie kann man die Infos noch mehr an die Menschen heranbringen? Und da muss man niedrigschwelliger rangehen, zum Beispiel über Kooperationen mit Institutionen, die näher an den Patienten oder an den Versicherten dran sind. (Viola Sinirlioğlu)
[20:15] Vom Pilotprojekt während Corona zum kassenübergreifendem Melde-Portal „Wir haben den Nerv getroffen“
Wir sehen, dass die Meldungen von hoher Qualität sind …Unsere Fälle sind fast alle seriöse Fälle. Man merkt, hier möchte ein Patient oder ein Angehöriger kritische Ereignisse berichten - mit vielen Details. Deshalb haben wir auch eine gute Wertebasis, um daraus Erkenntnisse abzuleiten. (Markus Rall)
[24:34] Praxis oder Klinik? Großes oder kleines Krankenhaus? Stadt oder Land? Die Anonymität der Patient:innen und Leistungserbringer bleibt durchgehend gewahrt – die Angaben werden lediglich kategorisiert. Der Fragebogen zur Erfassung ist lang, dennoch füllen 90 Prozent der Nutzer:innen alles aus.
[26:00] Portal als Datenschatz – klinikübergreifende Meldungen zeigen deutlich, dass sich die Art der Fehler überall gleicht. Allen voran: Kommunikationsfehler.
Es ist ein totaler Datenschatz, auch für die Leistungserbringer, für die Krankenhäuser, die sonst nur in ihrem eigenen Krankenhaus sammeln. (Viola Sinirlioğlu)
[27:08] Das Meldeportal als „Frühwarnsystem, wie ein Radar für Patientensicherheit“
Ich muss nicht warten, bis das Ereignis in meiner Klinik passiert. Denn wir wissen, dass ein Schaden am Patient zuvor oft hundert kritische Ereignisse in der Richtung hatte, denn ganz oft werden Schäden ja abgewendet: Der Patient passt auf, das Gesundheitsfachpersonal ist aufmerksam und fängt den Fehler ab. Das bedeutet, wir können davon ausgehen, dass kritische Ereignisse hundertfach stattfinden, bis ein Patient zu Schaden kommt. Und das ist der Vorteil: Wir können aus diesen hundert kritischen Ereignissen schon lernen. (Markus Rall)
[28:31] Über die Finanzierung des Melde-Portals und die Öffnung für weitere Krankenkassen
Melden dürfen sowieso schon immer alle. Also das war auch eine nette Geschichte, dass man nicht gesagt hat, man muss seine Versichertennummer von der Ersatzkasse eingeben, um melden zu können, sondern alle dürfen melden. (Markus Rall)
[30:35] Evidenzbasiert: Über die Evaluation des Projekts – über die sogenannte „Conversionsrate“, die Tagesschau, die Wirkung von Newslettern und die Veröffentlichungen zu Learnings wie ein Patienten-Speak-Up
Die Auswertung der Meldungen zeigt: In 50 Prozent der Fälle, die gemeldet werden, ist der Patient zu Schaden gekommen. Und wenn ich jetzt sagen kann, mit so einem Tipp, den wir Patient:innen geben, kann eine Sepsis verhindert werden, würde das der Kasse und uns allen ein paar 100.000 Euro sparen. Wenn das 100 mal passiert, hätten wir das ganze System über Jahre finanziert, mit ein paar wenigen solcher Fälle. (Markus Rall)
[35:17] Viola Sinirlioğlu über die Notwendigkeit, die Gesundheitskompetenz allgemein in Deutschland zu stärken: Eine WHO/TUM-Studie aus diesem Jahr und der soeben erschienene Präventionsradar der DAK zeigen, dass insbesondere bei Kindern die Gesundheitskompetenz nur sehr gering ausgeprägt ist.
Jetzt ist die Frage, wie kann man das noch besser zusammenkriegen, dass die Leute wirklich mehr Gesundheitskompetenz aufbauen und sich sicherer fühlen in dem Umgang mit Patientensicherheit. (Viola Sinirlioglu)
[37:38] Wie kommt ein Online-Portal zu den Patient:innen? Über die Kommunikationswege einer Krankenkasse: Vom Magazin über die Website zu Social Media und Gesundheits-App
[40:25] Über die Aufgabe einer Patientensicherheitsbeauftragte einer Krankenkasse
Fett über alles drüber kann man die Überzeugungsarbeit schreiben. ... Also Patientensicherheit heißt ja nicht nur Qualitätsmanagement - oder ich habe das falsche Bein operiert - , sondern es bedeutet, dass ich den Patienten von A bis Z so gut wie möglich und so sicher wie möglich in seiner Versorgung begleite. (Viola Sinirlioğlu)
[43:04] Hilft das Portal Mehr-Patientensicherheit.de, eine Kultur der Fehleroffenheit zu fördern?
Jeder gibt ja sein Bestes. Fehler sind nicht dazu da, zu sagen, wer war das? Sondern: Was ist falsch gelaufen und was können wir daraus lernen? (Viola Sinirlioğlu)
[46:30] Vision 2040 bis 2045
Also wir brauchen auch mehr Mut im Gesundheitssystem für Veränderungen. Vieles stagniert doch nach wie vor. So kann es nicht weitergehen, und das muss man in Taten umsetzen. Und das gilt für die Leute in der Versorgung und für die ganzen anderen Akteure im Gesundheitssystem gleichermaßen. (Viola Sinirlioğlu)
Vision 2045 bedeutet, wir haben noch 20 Jahre Zeit. Das ist für Veränderungen in einem System nicht viel Zeit, habe ich gelernt. ... Ich wünsche mir, dass da viel passiert in den 20 Jahren. ... 20.000 Tote und und Hunderttausende von vermeidbaren Schäden an Patienten sind eine Riesenlast, sowohl ethisch moralisch, was das vermeidbare Leid angeht, als eben auch als Kostenfaktor. Denn all diese Schäden müssen behandelt und die Folgeschäden versorgt werden. (Markus Rall)
Gesundheitsökonomin, Ärztin und seit 2024 erste Patientensicherheitsbeauftragte der DAK. Ihre Laufbahn führte sie von der WHO und GEZ über die Christoph Lohfert Stiftung bis in die Klinik, wo sie in der Inneren Medizin und Notaufnahme arbeitet. Ihr Ziel ist es, Patientensicherheit über Sektorgrenzen hinweg zu stärken und Brücken zwischen Krankenkassen und Klinikalltag zu schlagen.
Arzt und Gründer des InPASS – Institut für Patientensicherheit und Teamtraining GmbH. Seit über 25 Jahren arbeitet er zu Fehlerursachen im Gesundheitswesen mit Schwerpunkt auf Kommunikation und Zusammenarbeit („Human Factors“). 2023 gründete er zusätzlich die Deutsche Gesellschaft für Patientensicherheit gGmbH, um vermeidbare Patientenschäden systematisch zu reduzieren.
Projekt- und Headerfoto: Bertram Solcher für den Lohfert-Preis / Intro/Outro: www.kurtcreative.de / Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wieder. Die Christoph Lohfert Stiftung macht sich Äußerungen ihrer Gesprächspartner:innen in Interviews und Beiträgen nicht zu eigen.