Projekt
Darüber und inwiefern die Kioske mit ihren Beratungs- und Unterstützungsangeboten zu Patient Empowerment beitragen, haben wir mit Alexander Fischer gesprochen. Er ist Geschäftsführer der Gesundheit für Billstedt/Horn und hat inzwischen fünf Gesundheitskioske in Hamburg aufgebaut.
Der Gesundheitskiosk bietet leicht zugängliche Beratung und Unterstützung für Menschen in sozio-ökonomisch benachteiligten Stadttteilen, in denen die gesundheitliche Versorgung oft schlechter zugänglich ist. Die meist mehrsprachigen Mitarbeitenden können in der Beratung nicht nur Sprachbarrieren abzubauen, sondern die Fragen zu Themen des Gesundheits- und Sozialwesens auch kultursensibel und dadurch nachhaltiger beantworten. Der Gesundheitskiosk übernimmt dabei hauptsächlich eine koordinierende und informierende Rolle. Darüber hinaus fördert er die Vernetzung der lokalen Akteure und sorgt für abgestimmte Versorgungsprozesse.
Das Ziel ist neben der Beratung und Gesundheitsförderung aller Einwohner:innen vor allem
Der erste deutsche Gesundheitskiosk wurde 2017 in Hamburg Billstedt eröffnet. Inzwischen gibt es in Hamburg fünf Gesundheitskioske, und sogar Gesundheitsminister Dr. Karl Lauterbach war schon zu Besuch. Der Innovationsausschuss des Gemeinsamen Bundesausschuss, des obersten Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung aus Medizin, Krankenhäusern und Krankenkassen, hat sie für die Regelversorgung empfohlen. Denn die Gesundheitskioske erfüllen ihren Zweck. Sie stärken mit ihren Beratungs- und Förderangeboten die Gesundheitskompetenz der Menschen, vermeiden durch die vernetzte und kontinuierliche Betreuung vor Ort überflüssige Notaufnahmen und reduzieren langfristig die Kosten für das Gesundheitssystem.
Einziger Haken: Die Finanzierung erfolgt zurzeit hauptsächlich über sogenannte Selektivverträge mit den einzelnen Krankenkassen, sodass lediglich die Patient:innen der teilnehmenden Kassen im vollen Umfang vom Angebot des Gesundheitskiosk profitieren. Für spezielle Projekte gibt es zwar alternative Finanzierungsmodelle, eine allgemeine gesetzliche Regelung wird derzeit diskutiert.
01:26 – Alexander Fischer über Kioske in seiner Kölner Zeit
02:26 - Über die Entstehung der Gesundheitskioske in Hamburg und Alexander Fischers Rolle dabei
„In der Zeit hatte ich das Glück, dass sich ganz gute Rahmenbedingungen ergeben haben. Das heißt, einerseits hatte die Stadt Hamburg Interesse, Gesundheitsversorgung über eine soziale Komponente zu verbessern, also nicht nur infrastrukturell. Es gab eine sehr rege Ärzteschaft, die was verändern wollte, weil sie gesehen hat, dass sie an Limitationen kommt. Es gab es einen Sozialraum, der was verändern wollte und auch Krankenkassen, die was machen wollten.“
„Es war dann recht schnell klar, dass wir eigentlich niedrigschwellige Versorgungsmodelle brauchen, … da das ein großer Wunsch war, sowohl der regionalen Akteure auf der medizinischen Seite, aber auch des Sozialraums, weil oft eine Verknüpfung fehlt.“
04:21 – Über die Frage, was einen Gesundheitskiosk ausmacht – es ist nicht nur die Lage, die einfach erreichbar sein muss, es geht auch darum, dort ohne Termin willkommen zu sein und „dass man jeden Menschen wohlwollend begrüßt.“ Weitere Faktoren: eine hohe Professionalisierung mit Advanced Practice Nurses und die Mehrsprachigkeit des Personals
05:31 – Über die Frage, wer den Gesundheitskiosk mit welchen Anliegen nutzt
„Es sind ganz unterschiedliche Menschen, die überhaupt keinen Zugang zum Gesundheitswesen haben. Die kommen einfach rein, weil sie merken, sie haben irgendwie ein Problem und wissen nicht genau, wo sie damit hingehen. Und dann gibt es natürlich die, die schon im Gesundheitswesen sind und dann über die Überweisung des Arztes kommen... Aber ich würde schon sagen, es sind oft sehr kranke, multimorbide Menschen. Es sind oft Menschen, die nicht gut zurechtkommen im Gesundheitswesen, sei es aufgrund von sprachlichen Barrieren, sei es aufgrund von intellektuellen Barrieren, aufgrund von Bildungsbarrieren, also aufgrund von verschiedenen Barrieren oder eben auch, weil sie eben vulnerabel sind. Das heißt, sie sind alleinerziehend, haben fünf Kinder, haben keine Arbeit, oder sind sehr alt, sie kommen nicht mehr zum Hausarzt, weil er keinen Lift hat, sondern müssen die Treppe besteigen und es geht nicht.“
06:49 - Über das spezielle Beispiel zweier Schulkinder, denen Schule und Gesundheitskiosk gemeinsam schnell helfen konnten und die Tatsache, dass Menschen mit einem geringeren Bildungsstand es auch schwerer haben, „Manager“ der eigenen Gesundheit zu sein.
08:38 – Über die Frage, wie viele Menschen von den Hamburger Gesundheitskiosken profitieren und über den – immer knappen, aber so nötigen - Faktor Zeit und Personal bei der Unterstützung von Patient.innen
„Also deswegen würde ich sagen, das wird sehr, sehr gut angenommen, und die Zufriedenheit ist natürlich immens.“
10:45 – Über die Kompetenzen von Advanced Practice Nurses
„Die erfahrene Pflegekraft ist mindestens genauso gut. Aber sie hat eben gelernt, auch konzeptionell zu arbeiten. Das heißt, sie kann auch neue Konzepte wie zum Beispiel Long Covid dann mit in den Versorgungsalltag integrieren. Sie hat eine ganz gute Fähigkeit im Sinne der Personalführung, und auch im Sinne der interprofessionellen Zusammenarbeit. Sie hat gelernt auf Augenhöhe mit den Ärzten zu sprechen, was ja ganz wichtig ist… Also ein Studium macht noch lange keine richtig gute Kompetenz, aber es hat eben gewisse Möglichkeiten.“
12:36 - Viele Menschen, besonders diejenigen mit sprachlichen oder intellektuellen Hürden, sind benachteiligt. Über zwei persönliche Beispiele, wie die Informationen zum Patienten kommen und die Bedeutung eines ausführlichen Anamnesegesprächs
„Das Kind war schon viermal in der Notaufnahme. Hätte man eine ordentliche Anamnese gemacht, hätte man gesehen, dass bei der Mutter ein Problem ist. .. Also für das System wäre es eigentlich viel besser …, sie zu befähigen, dass sie mit sich und damit natürlich auch mit ihren Kindern ein bisschen selbstbestimmter handelt in der Erkrankung.“
14:14 – Über die Frage, wie der Gesundheitskiosk dazu beiträgt, die Menschen zu befähigen, selbst auf ihre Gesundheit zu achten, ein Plädoyer für „Hilfe zur Selbsthilfe“ und dafür, dass strukturelle Veränderungen und mehr Ressourcen notwendig sind, um langfristig Patient-Empowerment zu ermöglichen.
„ … wir müssen uns dann auch die Zeit nehmen, die Menschen zu befähigen. …Und die Bereitschaft ist immens hoch, weil sie sehen ja (beispielsweise), was sich daraus entwickelt, dass sie wieder mit ihren Enkelkindern spielen können, dass sie die Treppen wieder steigen können.“
17:37 - Über die Kosten, die Herausforderungen des demographischen Wandels und der Notwendigkeit nachhaltig präventiver Ansätze
„Ist eine Vorbeugemedizin ökonomisch sinnvoll? Ja! Also wir wissen das alles, aber wir setzen es nicht um.“
18:45 – Über die Empfehlung des Innovationsausschusses des Gemeinsamen Bundesausschusses (GBA), Gesundheitskioske in die Regelversorgung aufzunehmen und die Frage, wie die Integration von Innovationen ins Gesundheitssystem gelingen könnte
„Wir tun natürlich alles dafür, dass der Beschluss des GBAs umgesetzt wird.“
Wie drohende Unterversorgung in manchen Regionen die Sorge entkräftet, mit Gesundheitskiosken eine doppelte Versorgungsstruktur aufzubauen. Insbesondere städtische Regionen, die von einem Mangel an Hausärzten betroffen sind, profitieren von der Einbindung nicht-ärztlicher Berufsgruppen in die ambulante Versorgung, vor allem auch dadurch, dass die Notfälle abnehmen.
21:38 – Über die Öffnungszeiten des Gesundheitskiosk, was das mit der schwierigen Finanzierung zu tun hat und was Gesundheitskiosk und Notaufnahme gemeinsam haben.
23:06 – Über die Präventionskurse der Krankenkassen als Instrument des Patient Empowerment, die wegen der erforderlichen Vorleistung durch die Patient:innen trotzdem nicht in Anspruch genommen werden können und die Rolle, die der Gesundheitskiosk dabei übernehmen kann sowie die kleinen Stellschrauben, die Großes bewirken können – wie bei der Seniorenherzsportgruppe
„ Da ist mir noch ein Punkt wichtig, weil, ich finde auch, das gehört ein bisschen zum Patient Empowerment, dass man erst mal guckt, wo steht denn der Mensch. Und da machen wir 45 Minuten Anamnese, sowohl der sozialen Verhältnisse, als auch natürlich der Krankheitsanamnese, der Familienanamnese, dass wir erst mal so ein Bild haben. Und dann gucken wir, „Okay, wo will er eigentlich selber hin? Was sind eigentlich seine Ziele?“
26:40 – Über das Konzept der Bezugspflege, die Bedeutung eines konstanten Personalstamms und das Arbeitsverständnis des Gesundheitskiosks, die Patient:innen auch da zu begleiten, wo sie im Alltag Probleme haben sowie die immerwährende Herausforderung, Personal (zum Beispiel in Elternzeit) zu ersetzen
29:51 – Über die Herausforderungen, Personal zu gewinnen und zu halten und die Frage, warum es eigentlich so wenig Farsi sprechende Pflegekräfte gibt
„Aber wenn Sie die Leute haben, dann finden sie es richtig gut. Weil sie natürlich dieses selbstbestimmte Arbeiten haben. Sie arbeiten in ihrer Profession. Sie können ja wirklich das anwenden, was Sie gelernt haben. Sie arbeiten auf Augenhöhe mit den Ärzten.“
33:05 – Über Kosten und die Finanzierung eines Gesundheitskiosks, die Herausforderungen, die der Versichertenbezug der Krankenkassen für einen populationsorientierten Versorger mit sich bringt, wenn dessen Angebote allen Menschen im Stadtteil – unabhängig von ihrer jeweiligen Krankenkasse – zugute kommen sollen..
„Das heißt, wir haben eine hohe Unzufriedenheit im Netzwerk, weil ein Arzt einfach nur noch einen AOK-Patienten schicken kann und einen TK-Patienten nicht mehr. Und die ärztliche Profession macht ja Gott sei Dank keinen Unterschied anhand der Krankenkasse. … Also machen sie es oft gar nicht mehr, weil sie es natürlich schwierig finden aus ethischem Handeln heraus.“
36:52 – Über die Frage der Organisationsform und die Vorteile einer Unternehmergesellschaft
„Wir sind anschlussbar an alle. Wir haben mit vier Kliniken Kooperationsverträge, mit 27 Arztpraxen, mit sozialen Einrichtungen, mit Pflegeeinrichtungen. Und alle haben die gleichen Möglichkeiten, sich da einzubringen.
39:15 – Über die Kooperation mit einer Klinik für die poststationäre Versorgung von 116 Patient:innen mit Herzinsuffizienz, die Vermeidung von sogenannten "care gaps" und die Vorzüge von Arzt-Pflege-Tandems
„Die Chefärzte dort sind total begeistert und sagen, wir sehen die viel, viel seltener, weil sie ambulant jetzt viel besser versorgt sind.“
41:25 - Alexander Fischers Vision für 2045
„Ich finde es eine schöne Vision, wenn wir versuchen, die vielen Ressourcen, die dieses Land hat, dort einzusetzen, wo sie am meisten benötigt werden. Dass wir nicht immer nur interessenspolitisch agieren. … Ich fände es schön, wenn wir bis 45 gerade die beste Versorgung, sowohl der Ärzte als auch der Pflegekräfte, dort haben, wo sie sein muss. Und das ist eben dort, wo die Menschen krank sind. Und die sind eben wissenschaftlich erwiesen eher dort krank, wo Armut ist. Und deswegen gehört die beste Versorgung aus meiner Sicht in die Region, wo jetzt auch die Gesundheitskioske sind.
Hamburg, im Juli 2024
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Moderation, Redaktion: Tanja Brunner, Julia Hauck / Produktion: Julia Hauck / Faktencheck: Dr. Thomas Lehnert / Headerfoto: www.gesundheit-bh.de / Intro/Outro: www.kurtcreative.de / Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wider. Die Christoph Lohfert Stiftung macht sich Äußerungen ihrer Gesprächspartner:innen in Interviews und Beiträgen nicht zu eigen.