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Freia De Bock im Interview über die Herausforderung, Menschen, die bisher keine Stimme hatten, mit einzubeziehen

16. Februar 2022

Lohfert-Preis

Gemeinsam für mehr Gesundheit: Modelle und Technologien zur Verbesserung der Erreichbarkeit, Aufklärung und Beteiligung in der gesundheitlichen Versorgung – so lautet das Ausschreibungsthema für den diesjährigen Lohfert-Preis. Dazu heißt die Christoph Lohfert Stiftung Prof. Dr. med. Freia De Bock, Expertin für Public Health und ehemalige Abteilungsleiterin in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA), als Gastjurorin herzlich willkommen.

Aktualisierung vom 26.04.2022: Seit April 2022 ist Prof. Freia De Bock Professorin für Versorgungsforschung im Kindes- und Jugendalter mit dem Schwerpunkt Kinderschutz in der Medizin an der Klinik für Allgemeine Pädiatrie, Neonatologie und Kinderkardiologie, Zentrum für Kinder- und Jugendmedizin am Universitätsklinikum Düsseldorf Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf.

Im Stiftungspodcast spricht Prof. Freia De Bock nun über das diesjährige Ausschreibungsthema. Die Gesundheitsexpertin erläutert, warum es so wichtig ist, Veränderung von Gesundheit in der Fläche zu erreichen und bei Maßnahmen auf den sogenannten Public Health Impact zu achten. Den Mitschnitt des Gesprächs finden Sie weiter unten.

Prof. Dr. Freia De Bock ist Kinderärztin und Public Health Wissenschaftlerin und widmet ihre Arbeit der Entwicklung, Umsetzung und Evaluation von Maßnahmen der Prävention, Gesundheitsförderung und gesundheitlichen Versorgung von Kindern und Jugendlichen. Sie forscht an der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg. Von Mai 2018 bis März 2022 leitete sie darüber hinaus die Abteilung „Q Forschung, Zielgruppen, Lebenslagen“ der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA).

Der mit 20.000 Euro dotierte Förderpreis steht unter der Schirmherrschaft von Dr. Regina Klakow-Franck, Fachärztin für Gynäkologie und stellvertretende Leiterin des IQTIG (Institut für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen).

Prof. Dr. Freia De Bock, Gastjurorin für den Lohfert-Preis 2022, Expertin für Public Health und Abteilungsleiterin in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)
Prof. Dr. Freia De Bock, Gastjurorin für den Lohfert-Preis 2022, Expertin für Public Health und Abteilungsleiterin in der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA)

Mitschrift des Interviews

Christoph Lohfert Stiftung (CLS): Hallo Frau De Bock, herzlich Willkommen zu unserem Podcast-Interview. Vielen Dank, dass Sie sich die Zeit dafür nehmen und herzlich Willkommen noch mal als Gast-Jurorin in diesem Jahr für die Ausschreibung des Lohfert-Preises 2022. Das Thema lautet in diesem Jahr: Gemeinsam für mehr Gesundheit, Modelle und Technologien zur Verbesserung der Erreichbarkeit, Aufklärung und Beteiligung in der gesundheitlichen Versorgung. Ein großes Thema mit vielen Fragen und hoffentlich vielen Antworten. Frau De Bock, Sie leiten die „Abteilung Q Forschung, Zielgruppen, Lebenslagen“ bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Inwieweit sind Sie denn dabei mit diesen Themenbereichen Erreichbarkeit, Aufklärung und Beteiligung konfrontiert?

Erreichbarkeit und Beteiligung sind der Schlüssel für einen großen Public Health Impact in der Fläche

Freia De Bock (FDB) (1:30): Ja, also diese Begriffe sind sehr wichtig für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Warum? Weil es darum geht bei der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, dass wir Veränderung von Gesundheit in der Fläche erreichen. Und um positive Veränderungen in der Fläche zu erreichen, ist es wichtig, dass wir bei Maßnahmen auf den sogenannten Public Health Impact achten. Und Public Health Impact ist nicht das gleiche wie Wirksamkeit. Also Impact ist eigentlich ein Produkt, wenn man so möchte, auch mathematisch: das Produkt von Wirksamkeit einer Maßnahme unter Studienbedingungen, aber auch von Reichweite und Akzeptanz einer Maßnahme, auch von der Umsetzbarkeit einer Maßnahme. (Also: wie sehr wird diese Maßnahme so, wie geplant, auch in die Praxis umgesetzt) Und dann letztlich auch von Nachhaltigkeit einer Maßnahme. Und aufgrund dieser Tatsache ist die Erreichbarkeit und letztlich auch die Beteiligung der Schlüssel für einen großen Public Health Impact in der Fläche. Und insofern ist das auch für die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung ein wichtiges Thema, dass wir wirklich die Zielgruppen, die am wichtigsten sind, die vielleicht am meisten Risiken haben, so aufklären und so beteiligen, auch beim Design von Maßnahmen, dass diese Maßnahme akzeptiert wird und angenommen wird in der Zielgruppe.

Multiplikatoren und Gatekeeper spielen eine große Rolle

CLS: Mit welchen Maßnahmen, wie Sie gerade gesagt haben, lassen sich denn mehr Menschen innerhalb einer bestimmten Zielgruppe erreichen? Also kann man da ganz allgemeine Aussagen treffen, das wird immer nach Schema so und so gemacht. Oder hängt das jeweils vom Thema ab und von der Zielgruppe auch? Können Sie dafür ein Beispiel geben? Zum Beispiel beim Thema Impfen?

FDB (3:30): Es gibt ein paar grundlegende Kriterien. Das ist wie eine Methodik, die Sie einsetzen, um Zielgruppen zu erreichen. Die Inhalte innerhalb dieser Methodik sind dann anders, je nach Zielgruppe, die sie erreichen wollen. Aber das Wichtige ist, um wirklich hohe Erreichung zu haben: Wir haben eigentlich ein System der Kommunikation, in dem wir alle arbeiten und die Multiplikatoren vor Ort, in den Schulen, in Kindergärten, in Kommunen, in Krankenhäusern, in Praxen und so weiter – das sind die Hauptakteure in der Kommunikation, in der Fläche. Und deswegen ist es ganz wichtig, wenn sie wirklich in der Fläche etwas bewirken wollen, dass die Multiplikatoren und sogenannte Gatekeeper mit einbezogen sind. Gatekeeper sind dann zum Beispiel, wenn Sie jetzt an psychische Gesundheit denken und Förderung psychischer Gesundheit von Jugendlichen oder von Schülern, Eltern, aber auch Lehrer. Das ist ein wichtiges Kriterium, um zum Beispiel auch Zielgruppen, die eher schlecht erreichbar sind, auch zu erreichen, weil die im Alltag nicht unbedingt die Website der BZgA kennen.

Bringen statt Holen

(4:44) Das zweite, das wichtig ist, ist, dass man die Barriere sehr gering macht, also dass man weg von der Hol-Struktur hin zu einer Bring-Struktur kommt. Hol-Struktur heißt, ich muss mich als Zielgruppen-Mitglied auf eine Webseite begeben, muss eine Broschüre kennen, muss die lesen und ich muss aktiv werden. Bei einer Bring-Struktur ist es so, dass mir die einfach begegnet. Also ich bin zum Beispiel beim Arbeitsamt und es gibt eine Broschüre, die mir ausgehändigt wird. Es gibt etwas, was ich einfach beim Gehen durch die Stadt direkt ansprechend finde und was ich so mitnehmen kann. Denken Sie an das Thema Impf-Busse zum Beispiel gerade in der Pandemie. Das wäre eine typische Bring-Struktur. Also das ist das zweite Kriterium. Das dritte, um Leute zu erreichen, die Reichweite zu maximieren, und die Akzeptanz, ist die partizipative Einbindung von Zielgruppen. Warum? Weil Botschaften oder auch Programme angepasst werden müssen an die Bedarfe und an die Kontexte dieser Zielgruppen. Ganz speziell zum Beispiel bei Kampagnen ist es, dass Sprache, Bilderwelten, aber auch Terminologie zum Beispiel angepasst werden muss, damit es wirken kann und relevant wahrgenommen werden kann. Was problematisch ist im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung ist beispielsweise, dass die Bilderwelten, die mir oftmals begegnen, auf die Mittelschicht ausgerichtet sind. Da gibt es die Apfel essenden Senioren, die lachend in die Kamera gucken. Und das ist eine Bilderwelt, die spricht eben die an, die sowieso schon mehr Ressourcen haben, die möglicherweise die Struktur nicht brauchen, sondern eigentlich fast überversorgt sind.

Die umgekehrte Wirksamkeits-Pyramide

(06:37) Und das ist ein Grundsatzproblem in der Public Health insgesamt, aber auch in der Prävention, dass wir eine sogenannte „umgekehrte Wirksamkeits-Pyramide“ haben, wo wir diejenigen Zielgruppen, die bereits viele Ressourcen haben und wenig Risiken haben, eigentlich überversorgen, eine Über-Inanspruchnahme haben. Nicht immer, aber das kann dazu führen. Und auf der anderen Seite erreichen wir die, die weniger Ressourcen haben, zu wenig, weil das Angebot sogar zu hochschwellig ist oder eine hohe Kompetenz zum Beispiel in der Mediennutzung voraussetzt oder in der Sprache, im Lesenkönnen und so weiter. Es braucht eine Anpassung des Angebots und die Einbindung von Zielgruppen, damit Bilderwelten etc. angepasst sind und auch Ansprache angepasst ist. Also: Wem vertraue ich zum Beispiel? Das wissen wir jetzt beispielsweise in der Pandemie, dass gerade Eltern sich sehr viel mehr Ansprache auch durch die Kinderärzte zum Thema Impfung wünschen. Oder auch in der Schule mehr Infos. Die wünschen sich nicht einen Spot in der Tagesschau, weil das wird für sie nicht relevant sein, sondern die Ansprache muss durch relevante Stakeholder passieren. Dann ist noch mal wichtig, wenn man Programme zum Beispiel aus einem Kontext in andere Kontexte bringt, dass man die Programme anpasst an die Kontexte. In einer Kommune können die ganz anders sein als in der anderen. Und wenn ich das nicht anpasse, dann kann ich nicht die gleiche Reichweite haben in der anderen Kommune.   

Medienkompetenz stärken

(08:20) Um Leute zu erreichen, kann es unter Umständen notwendig sein, gar nicht nur gesundheitliche Botschaften zu übermitteln, sondern zum Beispiel überhaupt die Medienkompetenz zu stärken. Dass Leute Botschaften, die da sind, auch finden können. Das ist gerade eine extreme Entwicklung in der Pandemie, dass Information überall ist, aber auch viel Desinformation, die Botschaften nicht überall gleich sind und deswegen möglichst evidenzbasierte Botschaften gar nicht durchkommen können, wenn ich nicht eine hohe Medienkompetenz habe. Also wenn ich nicht gut entscheiden kann, welche Informationen, die z.B. auf Websites auf mich zukommen, sind reliabel, welche nicht, welche sind valide und wie? Wie kann ich das überprüfen zum Beispiel? Gibt es eine Quelle? Zum Beispiel: Wer ist der Absender? Hat er ein Impressum und hat er eine bestimmte Legitimation? Ja oder nein? Das nennt man Medienkompetenz. Und da geht es um ein Empowerment der Bürger, um die sinnvollen und hilfreichen Informationen zu bekommen. Und das kann auch Teil von Kampagnen sein, dieses Empowerment.

CLS: Sie sprachen gerade das Thema Kampagnen an und hatten auch vorhin schon drüber gesprochen über Aufklärungskampagnen. Da geht es auch darum, bestimmte Zielgruppen zu erreichen. Auch um, wie Sie schon sagten, eine Beteiligung zu erzielen. Können Sie von einer besonders gelungenen Kampagne erzählen, die Sie auch mal begleitet haben?

„Alkohol? Kenn dein Limit.“

FDB (09:57): Ich kann Ihnen ein Beispiel geben, das, glaube ich, so ein bisschen veranschaulicht, wie von Bundesebene aus in der Kampagne Beteiligung und auch Reichweiten gelingen können. Also ein Beispiel ist die Kampagne „Alkohol? Kenn dein Limit.“, die 16- bis 20-jährige junge Menschen in den Fokus nimmt und seit 2009 zum Beispiel durchgeführt worden ist. Und diese Kampagne hat die Beteiligung von der Zielgruppe, nämlich diesen jungen Menschen, von Anfang an mitgedacht. Und 2009 ist schon lange her. Wir haben von Anfang an dort Social Media mitgedacht, also zum Beispiel StudiVZ oder SchülerVZ und auch Facebook und auch verschiedenste Social-Media-Kanäle zu diesem Zeitpunkt. Jetzt aktuell noch YouTube und Instagram und nicht mehr Facebook, da die Zielgruppe diesen Kanal eigentlich verlässt mittlerweile. Und über diese Social-Media-Kanäle wurden regelmäßig Mitmach-Aktionen mit der jungen Gruppe installiert. Also zum Beispiel kreative Mitmachaktionen wie „Mach einen Film“, „mach ein Foto“, das zeigt, wie du zu dem Thema stehst. Sie sehen, Bundeskampagne heißt nicht unbedingt, dass man nicht auf die lokale Ebene kommt. Die Bundeszentrale arbeitet eben mit Multiplikatoren und Gatekeepern in der Schule zusammen, zum Beispiel mit Lehrern und Lehrerinnen, aber eben auch über Mitmach-Aktionen in Schulen, wo man beispielsweise einen Parkour zum Thema Alkohol durchmacht. Und dieser Parkour wechselt von einer Schule zur nächsten. Oder auch Peer-Aktionen im Freizeitbereich, wo junge Menschen mit anderen jungen Menschen zum Thema Alkohol in Kontakt kommen. (Da gibt es eine bestimmte Weiterbildung, die die haben, um das machen zu können.) Und das sind Möglichkeiten der Beteiligung von jungen Leuten in solchen Kampagnen.

Massenmediale Wirksamkeit

(12:00) Zum Thema Reichweite: In dieser „Alkohol? Kenn dein Limit.“-Kampagne ist es so, dass wir die Awareness von Jugendlichen verfolgen, und dass wir sehen, zum Beispiel, dass die Awareness in 2010 sehr hoch war. Wenn Sie die ungestützte erinnerte Awareness anschauen, dann sehen Sie, dass sie initial bei 40 Prozent lag. Und dann wurde die Erinnerung noch ein bisschen weniger. Und was man sieht ist, dass dann durch die Massenkommunikation, die im Jahr 2012 richtig hochgefahren worden ist, das ungestützte Erinnern stark zugenommen hat. Sie können solche Zielgruppen erreichen über große massenmediale Kampagnen im Bereich Alkohol, wenn alles aufeinander abgestimmt ist. Also die Slogans sind immer die gleichen, die Bilder sind die gleichen, die Leute kennen das. Und wenn es dann noch im Fernsehen zum Beispiel als Spot kommt oder auch massenmedial wie auf den großen Leinwänden in der Stadt, und wenn es ihnen dann auch noch in der Schule begegnet, dann wird das miteinander verbunden. Und so haben Sie dann eine bestimmte Reichweite in einer Gruppe zum Beispiel.

CLS: Ja, vielen Dank! Ein anderes Thema in der Ausschreibung sind Erreichbarkeit und Aufklärung, wie Sie eben auch schon angesprochen hatten, um diese beiden Aspekte noch einmal im Bereich der Prävention und Gesundheitsförderung hervorzuheben. Welche Bedeutung haben denn Erreichbarkeit und Aufklärung genau in diesem Bereich, also in Prävention und Gesundheitsförderung, und dies nicht nur in Bezug auf Jugendliche, sondern auf verschiedene Zielgruppen?

FDB (13:45): Die Bedeutung des Themas Erreichbarkeit ist hoch. Man sieht das jetzt gerade aktuell sehr gut, finde ich, in der Pandemie beim Thema Impfen. Ich sag nur ein Beispiel: Menschen mit Migrationshintergrund zum Beispiel und SARS-COV2-Impfungen. Da ist es so, dass wir jetzt wissen, die Impfrate bei Menschen mit Migrationshintergrund ist geringer. Aber wenn sie den Impfwillen anschauen bei den bisher Ungeimpften, ist der bei Menschen mit Migrationshintergrund höher als bei der bisher ungeimpften Allgemeinbevölkerung. Das heißt, Sie sehen hier genau, dass die Impfung, obwohl der Impfwille hoch ist, diese Menschen nicht erreichen konnte in der gleichen Art und Weise.

Das hat mit Niedrigschwelligkeit zu tun - also das Thema Holen versus Bringen. Da sehen Sie zum Beispiel die Stadt Bremen, die sehr, sehr viele Impfbusse und Impfaktionen vor Ort, in Kirchen, in Schulen, in Moscheen usw. angeboten hat. Und da ist es sehr gut gelungen, beispielsweise eben diese Zielgruppe zu erreichen. Das heißt, Sie müssen in diese Bring-Situation rein, weil möglicherweise die Kompetenz, auch die Kenntnis des Gesundheitssystems, auch die Kontakte ins Gesundheitssystem – kenne ich einen Arzt, kenne ich niemanden, habe ich Nachbarn, die mir Sachen erzählen oder nicht, – all diese Ressourcenthemen, die vielleicht bei Menschen, die aus einer anderen Kultur kommen oder noch nicht so lange in Deutschland sind, schlechter sind. Und da sehen Sie, wie wichtig das Thema Erreichbarkeit ist und Reichweite in bestimmte Bevölkerungsgruppen.

Gesundheitliche Ungleichheit kann auch zu sozialer Ungleichheit führen

(15:28) Insgesamt ist es so, dass die Erreichbarkeit von Zielgruppen wichtig ist in Bezug auf gesundheitliche Ungleichheit. Es darf eigentlich nicht sein, dass Menschen weniger erreicht werden, nur weil sie zum Beispiel aus einem anderen kulturellen Umfeld kommen. Das führt zu einer großen Ungleichheit. Und gesundheitliche Ungleichheit kann – und das sehen wir in der Pandemie ganz klar – auch zu sozialer Ungleichheit führen, zu weiteren Folgen in Bezug auf Bildung zum Beispiel von Kindern, von Jugendlichen. Wir haben das Thema umgekehrte Wirksamkeitspyramide. Wir müssen diejenigen mit dem höchsten Risiko am meisten erreichen. Und das ist letztlich ein Präventions-Dilemma, was noch nicht so wirklich gelöst worden ist. Ich will das anschaulich machen am Beispiel der U-Untersuchungen. Die U-Untersuchung ist ja eine Früherkennungs-Untersuchung beim niedergelassenen Kinderarzt. Erfolgreich sind dort zum Beispiel Erinnerungssysteme, bei denen man nochmal an die U-Untersuchung erinnert wird, wenn man vergessen hat, sein Kind dafür anzumelden ­– vielleicht, weil man zu viel Belastung auf anderer Seite hat, zum Beispiel als Alleinerziehende, oder auch als jemand, der Deutsch nicht versteht und dann noch erstmal zum Nachbarn gehen muss, um was zu übersetzen zu lassen. Hat man einen Termin verpasst, wird man noch einmal erinnert. Mit so einem Erinnerungssystem haben Sie eine deutliche Anhebung der Inanspruchnahme dieser Früherkennungsuntersuchungen. In der kinderärztlichen Praxis liegt diese im ersten Lebensjahr bei über 95 Prozent.

(17:11) Das Problem aber, und das lässt sich an den U-Untersuchungen auch ganz gut darstellen, ist, dass dann im weiteren Verlauf, wenn die Kinder älter werden, diese Inanspruchnahme abnimmt. Bei den Jugendlichen-Untersuchungen J 1 und 2 zum Beispiel ist diese Inanspruchnahme deutlich geringer. Und damit sieht man ein Problem mit der Reichweite in dieser Gruppe. Und wenn ich möchte, dass die Leistungen in J1, J2 mehr zur Geltung kommen, dann muss man eben die Reichweite erhöhen und überlegen: Wie kann das gelingen? Wie können Peer Ansätze oder das Anbieten von J1 und J 2 in Quartieren, in Jugendclubs das verbessern? Also raus aus der Hol-Situation hinein in die Bring-Situation.

Beteiligung führt zu einer besseren Zielgruppen-Orientierung

CLS: Sie haben es gesagt: Die Aufklärung ist wichtig, um Menschen zu erreichen und ist es dann noch genauso wichtig, dass sie auch beteiligt werden? Also das ist ja der dritte zentrale Aspekt unserer diesjährigen Ausschreibung: die Beteiligung im Sinne einer Partizipation der Betroffenen an gesundheitsförderlichen Maßnahmen. Im therapeutischen Setting spielt die Beteiligung der Patientinnen und Patienten und auch der Angehörigen eine zunehmend große Rolle.. Wie wichtig ist jetzt also auch noch dieser dritte zentrale Aspekt „Beteiligung“ im Bereich Prävention und Gesundheitsförderung?

FDB (18:39): Ja, also der ist sehr wichtig, der Aspekt Beteiligung. Warum ist er sehr wichtig? Weil Beteiligung zu einer besseren Zielgruppen-Orientierung führt und eigentlich der einzige Weg ist, um das zu erreichen. Weil die Milieus und die Zielgruppen sehr differenziert sind, auf die wir Maßnahmen zuschneiden wollen. Und eine gute Beteiligung am Anfang, bei der Entwicklung einer Maßnahme, kann auch die Reichweite und Akzeptanz positiv beeinflussen. Und dann sind wir wieder bei dem Public Health Impact: Reichweite und Akzeptanz neben der Wirksamkeit einer Maßnahme sind wichtig, um in der Fläche positive Effekte zu haben.

Stichwort „Citizen Science“

(19:22) Es gibt prinzipiell, wenn man jetzt von einer Bundesebene aus schaut, zwei Wege der Beteiligung. Man kann indirekt Bevölkerung oder Milieus beteiligen über Multiplikatoren, die mit den Milieus arbeiten. Da wären wir wieder bei Lehrern oder kommunalen Akteuren, die mit Familien arbeiten oder mit alten Menschen. Es gibt aber auch die Möglichkeit, direkte Beteiligung der Bevölkerung zu ermöglichen. Und da wäre das Stichwort „Citizen Science“ zum Beispiel auch, wo man versucht, über Methoden, auch digitale Methoden, die Bevölkerung direkt mit einzubeziehen. Das Typische wäre, dass man bei der Entwicklung von Maßnahmen zum Beispiel Fokusgruppen mit Bevölkerungsmitgliedern, Zielgruppenmitgliedern durchführt. Über wen muss die Information kommen? Also Implementierungs-Strategien.

(20:19) In Zukunft wird sicherlich das Thema Digitalisierung da eine große Rolle spielen. Also wie ermöglicht uns Digitalisierung noch mehr Beteiligung von Betroffenen? Bisher ist es so, dass digitale Möglichkeiten im Rahmen von „Citizen Science“ oftmals zwar da sind, aber sie sind noch hochschwellig. Das heißt, es hat eine bestimmte Unpersönlichkeit, bestimmte Gruppen kennen das gar nicht und trauen sich möglicherweise auch gar nicht, öffentlich in einer digitalen Videokonferenz irgendetwas zu sagen. Und deswegen ist es wichtig, eine Weiterentwicklung auch dahingehend zu machen, dass wir sagen: Wie können digitale Möglichkeiten geschaffen werden, die trotzdem eine Informalität haben? Es müsste trotzdem was Informelles sein. Die informellen Kontakte mit Personen aus dem Versorgungssystem, Ärzte, Pflegepersonen – die führen zu den manchmal wichtigen, aber eventuell tabuisierten Aspekten, um eine Maßnahme dann wirksamer machen zu können in der Fläche.

"StadtRaumMonitor"

(21:19) Ich möchte ein Beispiel geben, wie die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung diese Beteiligung nicht nur für ihre eigenen Maßnahmen unterstützt, sondern von Bundesebene auch Multiplikatoren darin unterstützt, Bevölkerungsgruppen zu beteiligen. Vom Bund aus ist es eine Herausforderung, dass wir bis auf die kommunale Ebene runterkommen. Deswegen können wir das meistens nicht direkt machen, sondern, was wir zum Beispiel jetzt entwickelt haben, ist ein Instrument, das sich „StadtraumMonitor“ nennt. Sie können das auch im Internet einfach finden. Und dieser "StadtRaumMonitor" ist ein Instrument zur kommunalen Beteiligung zu der Frage: Wie lebenswert finde ich meine Umgebung, und wie kann meine Umgebung lebenswerter werden? Gesundheit ist da ein Teilaspekt. Dieses „StadtRaumMonitor"-Instrument wird auch weiterentwickelt zum Thema Klima und Gesundheit. Also wie kann auch meine Umgebung klimafreundlicher werden? Und dieses Instrument ist ein digitales Tool, das von z.B. kommunalen Akteuren genutzt werden kann, um vor Ort mit Leuten, mit denen sie ohnehin zusammenarbeiten, mit Ehrenamtlichen, mit Gruppen, die sich vor Ort engagieren, mit Schulen etc. in Kontakt zu kommen, und das aber trotzdem systematisiert und strukturiert und valide. Also nicht, dass jeder sein eigenes Instrument hat und jeder seine eigene Frage, sondern dass man was Valides hat, was dann auch möglicherweise vergleichbar ist zwischen Kommunen. Wo sind wir gut in der Kommune? Wo sind wir schlecht in der Kommune? Dass ergibt ein Spinnennetz-Diagramm, wo man dann sieht, okay, da können wir daran arbeiten. Und gleichzeitig gibt es offene Felder, wo man ganz offen Kommentare auch eintragen kann als Bürger. Ja, das wäre so ein Instrument, das zum Beispiel eine Beteiligung ermöglichen kann.

CLS: Vielen Dank! Das war sehr interessant, sehr viele Informationen. Ich könnte noch Stunden mit Ihnen weitersprechen, aber so viel Zeit bleibt uns nicht. Daher jetzt eine allerletzte Frage Sie als Jurymitglied in diesem Jahr für den Lohfert-Preis. Wenn ich das so fragen darf: Was zeichnet denn für Sie ein innovatives Projekt aus zu dem ausgeschriebenen Thema?

FDB (23:36): Ja, also ich denke, das Thema Partizipation, also Beteiligung, wird bisher in kleineren Forschungsprojekten gut gemacht. Aber die Herausforderung ist, glaube ich, dass man in der Fläche Modelle findet, die dies ermöglichen, und die niedrigschwellig genug sind und die sich gut überlegen, wen wollen sie erreichen und neue Wege gehen, um Leute, die bisher keine Stimme hatten, auch mit einbeziehen zu können. Das würde ich sagen, ist eine Herausforderung. Das hat also auch mit Effizienz zu tun. Wie kann man das effizient machen, Leute zu beteiligen? Und wertschätzend, ohne dass es zu teuer ist. Das ist eine Frage.

CLS: Vielen Dank, wir sind gespannt, was für spannende Projekte in diesem Jahr eingereicht werden. Das Zepter übergeben wir dann an Sie und die übrigen Jurymitglieder. Vielen herzlichen Dank für Ihre Zeit und dieses spannende Interview.

FDB: Vielen Dank auch Ihnen! Ja, gerne.

Köln, Hamburg im Februar 2022

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Musik im Podcast: www.audiyou.de Markus Hildebrandt / Copyright Foto Prof. De Bock: privat / Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wider. Die Christoph Lohfert Stiftung macht sich Äußerungen ihrer Gesprächspartner:innen in Interviews und Beiträgen nicht zu eigen.

Ausschreibung für Lohfert-Preis endet am 28.02.2022

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