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Lohfert-Preis 2021 im Podcast: Integrierte und koordinierte Versorgung von Menschen mit schweren psychotischen Erkrankungen

23. Juni 2021

Lohfert-Preis

Dranbleiben, auch mal Zuhause vorbeifahren* – für den Erfolg des neuen Lohfert-Preisträgers spielen feste multidisziplinäre Bezugsteams eine Schlüsselrolle für die langfristige Genesung psychisch schwer erkrankter Menschen. Wir haben mit Prof. Anne Karow, Projektleiterin am UKE, über diese Art der sektorenübergreifenden und vernetzenden Versorgung gesprochen, über deren Wirksamkeit und Erfolge sowie über die Hürden, die sich hierzulande für diese flexible Versorgungsform ergeben. Den Mitschnitt des Gesprächs finden Sie weiter unten.

 

 

Projektleiterin Prof. Dr. Anne Karow (3.v.l.) mit ihren Projektkolleg:innen (v.ln.r.) Dr. Anja Christine Rohenkohl (stellv. für die TACT-Teams), Prof. Dr. Jürgen Gallinat (Klinikdirektor) und Prof. Dr. Martin Lambert (Projektleitung)
Projektleiterin Prof. Dr. Anne Karow (3.v.l.) mit ihren Projektkolleg:innen (v.ln.r.) Dr. Anja Christine Rohenkohl (stellv. für die TACT-Teams), Prof. Dr. Jürgen Gallinat (Klinikdirektor) und Prof. Dr. Martin Lambert (Projektleitung)

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Über das Projekt

Psychisch schwer erkrankte Menschen werden in 70 Prozent aller Fälle früh verrentet. Ihre Lebensqualität ist häufig enorm eingeschränkt. Im Vergleich zur Allgemeinbevölkerung sterben sie bis zu 20 Jahre früher.

Das Projekt "Hamburger Modell - Integrierte und koordinierte Versorgung von Menschen mit schweren psychotischen Erkrankungen" der UKE-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie ändert dies erfolgreich: Mit seiner evidenzbasierten, sektorenübergreifend vernetzenden sowie nachhaltigen Behandlung will es Menschen mit schweren psychotischen Störungen die langfristige Gesundung ermöglichen. Die Patient:innen sollen (wieder) am gesellschaftlichen Leben teilhaben – kurzum: mit ihrer Krankheit gut leben können.

Kernbestandteil der erfolgreichen Behandlung ist das Zuhausebehandlungsteam (Therapeutisches Assertive Community Treatment - TACT-Team). Dieses multidisziplinäre Team mit festen Bezugstherapeut:innen übernimmt nicht nur die medizinische, psychiatrische und psychologische Behandlung. Das TACT-Team begleitet und unterstützt die Erkrankten mit einem Netzwerk an ambulanten Partnern in allen Lebensbereichen, die durch die Erkrankung betroffen sind. Das ist bspw. auch die Unterstützung beim Übergang von der stationären zur ambulanten  Behandlung, bei der Wohnungssuche/-im Haushalt, bei der Arbeitsintegration, bei finanziellen Angelegenheiten und auch die Beratung und Begleitung der Angehörigen.

Tatsächlich ist in diesem Versorgungsmodell die Zahl der Patient:innen, die die gesamte Behandlung abbrechen, elf Mal niedriger als in der Regelversorgung, die der Zwangseinweisungen sieben Mal niedriger. Eine Reduktion der direkten Kosten ist die Folge.

Projektbeteiligte: Prof. Dr. Martin Lambert, Prof. Dr. Anne Karow (Projektleitung), Prof. Dr. Jürgen Gallinat (Klinikdirektor), Dr. Anja Christine Rohenkohl (stellv. für die TACT-Teams)

Mehr zum Projekt


Mitschnitt des Interviews

CLS: Frau Prof. Karow, im letzten Frankentatort wacht ein Jugendlicher in einer psychiatrischen Klinik auf. Im Gespräch mit dem Arzt sieht er, wie aus dessen Bartstoppeln langsam Maden übers Gesicht kriechen. Eine beunruhigende Vorstellung. War das eine psychose? Was versteht man eigentlich unter psychotischen Erkrankungen?

A. Karow (01:58): Ja, ich habe den Tatort tatsächlich gesehen und fand das auch ganz schön dargestellt. Es war auch ein spannender Film – natürlich nicht ganz realistisch, so wie wir das oft erleben oder wie das unsere Patienten erleben. Aber richtig, das war eine psychotische Erkrankung.

„Während sich diese akuten Wahrnehmungsveränderungen ziemlich gut mit Medikamenten behandeln lassen, haben wir oft Schwierigkeiten, diese feineren und schwierigeren Symptome wie die sogenannten kognitiven Symptome oder negativen Symptome – also dieses Zurückziehen in sich selbst und keinen Antrieb mehr zu haben –, wirklich gut zu behandeln. Und das macht häufig eine ganz lange Behandlung notwendig.“

Psychosen sind Erkrankungen, in denen vielfältige Symptome auftreten und Störungen. Das fängt damit an, dass viele Betroffene Wahrnehmungsveränderungen haben. Das heißt, manche hören zum Beispiel Stimmen, die kein anderer Mensch hört. Manche hören Geräusche. Wieder andere sehen Dinge, die andere nicht sehen können. Oder manche Menschen fühlen sich verfolgt oder stellen auch Beziehungen her zwischen äußeren Erlebnissen und ihrem inneren Erleben, die andere nicht wahrnehmen können. Oder sie haben beispielsweise den Eindruck, dass andere Menschen ihre Gedanken wahrnehmen können oder sie die Gedanken der anderen wahrnehmen können ist. Darüber hinaus sind auch andere Bereiche beeinträchtigt. Dazu gehört die Gefühlswelt. Viele Betroffene haben zusätzlich depressive Symptome oder auch Antriebsstörungen, also Schwierigkeiten, ihren Alltag anzugehen, zu bewältigen. Manche haben auch zu viel Antrieb, was dann in sogenannten Manien auftreten kann. Viele haben Schlafstörungen, Albträume. Was besonders im Langzeitverlauf ganz problematisch ist, dass viele Betroffene ausgeprägte Konzentrationsstörungen und Schwierigkeiten damit haben, mit den alltäglichen Dingen des Lebens klarzukommen, sie zu bewältigen. Sei es in der Schule oder im Berufsleben oder in der Ausbildung. Und während sich diese akuten Wahrnehmungsveränderungen ziemlich gut mit Medikamenten behandeln lassen, haben wir oft Schwierigkeiten, diese feineren und schwierigeren Symptome wie die sogenannten kognitiven Symptome oder negativen Symptome – also dieses Zurückziehen in sich selbst und keinen Antrieb mehr zu haben –, wirklich gut zu behandeln. Und das macht häufig eine ganz lange Behandlung notwendig.

CLS: Wie kann man sich die Behandlung im Hamburger Modell vorstellen? Wie kommt ein hilfesuchender Mensch zu Ihnen? Und was passiert mit ihm oder ihr im Vergleich zur Regelversorgung?

A. Karow (4:25): Die Patienten kommen in das Hamburger Modell über ganz normale Wege, als Patienten mit Psychosen oder auch Borderline-Erkrankungen. Beide Erkrankungsbilder können zu uns in die Behandlung kommen. Das kann ganz akut sein über unsere Notaufnahme der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf. Das kann sogar sehr dramatisch aussehen, dass Patienten zum Beispiel mit dem Rettungswagen kommen, weil sie ebenso akute Symptome haben oder die Familie sich große Sorgen gemacht hat. Wir haben auch eine Früherkennungsambulanz. Hier können sich gerade die jüngeren Patienten vorstellen, mit ersten unspezifischen Symptomen. Auch das ist ein wichtiger Zugangsweg, wo dann eine ausführliche Diagnostik stattfindet. Aber das sind natürlich auch ambulante Therapeuten, Psychiater, Hausärzte, die diese Auffälligkeiten bei ihren Patienten feststellen und sagen „Geh doch mal dahin und stellen sie sich dort doch vor.“ Oder auch Familien, Eltern oft, die sich besorgt an uns wenden, wenn die Kinder Auffälligkeiten entwickeln, die über ein normales Maß einer pubertären Entwicklung – die ja manchmal auch ungewöhnlich sein kann – hinausgehen und dann die Frage an uns wenden: Ist das noch normal? Oder ist das schon erkrankt?

„Wir würden das sehr gerne all unseren Patienten anbieten können“

(05:45) Wir gucken uns dann die Patienten an. Und wenn die Diagnose mit den Indikationskriterien für dieses Behandlungsmodell übereinstimmt, dann schlagen wir den Patienten, die dafür in Frage kommen, diese Behandlungsform vor. Da gibt es natürlich bestimmte Voraussetzungen. Eine ist, dass die Patienten Zuhause besuchbar sein müssen für die flexiblen nachgehenden Behandlungsteams. Das heißt, sie dürfen nicht zu weit weg von der Klinik wohnen. Ein zweistündiger Anfahrtsweg ist nicht mehr machbar. So haben wir einen Radius um unsere Klinik gebildet, wo man noch mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder auch mit dem Fahrrad hinkommt oder auch mit einem Auto, sodass mehrere Hausbesuche am Tag durch ein Team durchgeführt werden können. Und wir haben eine Reihe von teilnehmenden Krankenkassen. Das sind bei diesen Behandlungsmodell noch nicht alle teilnehmenden Krankenkassen der gesetzlichen Krankenversicherung, sodass wir auch hier immer gucken müssen: Ist der Patient in der richtigen Krankenkasse. Es wäre natürlich – das darf ich an dieser Stelle noch ergänzen – sehr schön, wenn alle Krankenkassen dabei wären. Wir würden das sehr gerne all unseren Patienten anbieten können.

CLS: Welche Symptome oder beziehungsweise welche Indikatoren müssen gegeben sein müssen, damit ein Patient oder eine Patientin im Hamburger Modell behandelt werden kann? Was ist das Besondere an dem Konzept Hamburger Modell im Gegensatz zur Standardversorgung?

„Es ist eben ein ganzes Team da, das auf die unterschiedlichen Bedürfnisse des Patienten reagieren kann.“

A. Karow (07:30): Das Besondere an dem Modell ist, dass es auf einem Konzept basiert, das sich Assertive Community Treatment nennt. Das ist weltweit entwickelt worden, auch in anderen Ländern bereits sehr erfolgreich erprobt worden. Hier in Deutschland und bei uns nennen wir das Therapeutisches Assertive Community Treatment (TACT, Anm.d.R.). Das sind ausschließlich Spezial-Therapeuten für ein spezifisches Erkrankungsbild, was mit einer besonders hohen Wirksamkeit dieser Behandlung verbunden ist. Und es ist ein Team-Behandlungsmodell, das heißt, es ist ein multiprofessionelles Team, bestehend aus Ärzten, Psychologen, Sozialarbeitern, Pflegekräften, Spezial-Therapeuten, Genesungsbegleitern. Und dieses Team behandelt gemeinsam einen Patienten. Es gibt immer einen primären Bezugstherapeuten, der hauptsächlich zuständig ist, damit da keine Wechsel stattfinden, und somit eine Beziehungskontinuität entsteht. Aber es ist eben ein ganzes Team da, das auf die unterschiedlichen Bedürfnisse des Patienten reagieren kann. Und das Besondere und auch das Wirksame an dem Modell ist, dass das eine sehr flexible Behandlung ist, die bedarfsadaptiert eingesetzt werden kann. Das heißt, wenn ein Patient sehr akut ist und sehr schwer erkrankt ist, dann kann das Team den Patienten auch täglich sehen, kann den Patienten zu Hause besuchen, kann dadurch eine Aufnahme in ein Krankenhaus zum Beispiel auch verhindern und für eine schnellere Symptomreduktion sorgen. Und das Team kann zum Beispiel schnell durch schnelle medikamentöse Verordnung oder Änderungen auf die Änderung der Bedürfnisse des jeweiligen Patienten und seiner Familie reagieren.

„Ziel ist die gesamte Genesung des Patienten, die Recovery im sozialen und auch funktionellen Sinne“

(09:14) Wenn sich ein Patient stabilisiert hat, dann treten andere Themen in den Vordergrund. Das kann zum Beispiel die Rückkehr in die Schule sein oder die Fortsetzung der Ausbildung, überhaupt das Suchen der Ausbildung – einfach Themen, die für das geordnete Leben wichtig sind. Es wird also nicht nur die Gesundung im medizinischen Sinne, die Symptomreduktion, die man als Remission bezeichnet, begleitet. Sondern die Teams begleiten langfristig die gesamte Genesung des Patienten, also diese Recovery in einem sozialen und auch funktionellen Sinne.

Besonders hervorzuheben ist noch, dass es eine sogenannte No-drop- Policy gibt, das heißt, auch Patienten mit zusätzlichen Krankheitsbildern werden nicht aus der Behandlung ausgeschlossen. Vielmehr gibt es sehr wenige Kriterien, wann so eine Behandlung nicht geeignet ist. Das kann zum Beispiel sein, wenn tatsächlich nur eine geschlossene Unterbringung langfristig beschlossen wird durch ein Gericht, dann können diese Patienten naheliegenderweise nicht behandelt werden. Oder ein Patient zieht um in eine andere Stadt oder Ähnliches.

Und dann gibt es ein Bereitschaftstelefon. Das heißt, wir bieten den Patienten und ihren Familien ein Krisentelefon an, wo sie anrufen können, auch außerhalb der Dienstzeiten. So ist bei Fragen oder Krisen, die auch am Wochenende manchmal auftreten, eine Sicherheit da, eine Beratung und eine Stütze.

„Das Team sorgt dafür, dass niemand an den Schnittstellen verloren geht, dass das Netz lückenlos ist und niemand durch die Maschen fällt.“

(10:53) Vor allem wir bieten eine durchgehende Behandlung über alle Sektoren an. Wenn ein Patient doch mal so schwer krank ist, dass er auf Station muss, ist trotzdem der Behandler weiter zuständig, besucht den Patienten dort und bespricht mit dem dortigen Stationsarzt und dem Behandlungsteam gemeinsam, wie es weitergeht. Und er ist eben auch ambulant zuständig, arbeitet mit einem Netzwerk zusammen mit niedergelassenen Psychiatern, niedergelassen Therapeuten und verhindert so diese Probleme, die immer an den Schnittstellen auftreten. Also wir haben das ganz oft. Patienten kommen akut, werden behandelt, verbessern sich gut auch Station, werden ein entlassen. Und dann bekommen sie eben nicht sofort im Anschluss einen Termin bei einem niedergelassenen Arzt, weil das schwierig ist und lange Wartezeiten sind. Gerade diese Patienten sind oft zu schwer krank, um sich diese Anschlussbehandlung richtig gut zu organisieren. Und hier sorgt das Team dafür, dass das eben passiert und niemand an diesen Schnittstellen verloren geht und sozusagen das Netz lückenlos ist und niemand durch die Maschen fällt.

CLS: Während Sie erzählt haben, wie das Behandlungsteam Hand in Hand im stationären und ambulanten Bereich mit den Patienten agiert, habe ich mich gefragt, wie das denn eigentlich während der Pandemie war mit den Kontaktbeschränkungen und den Hausbesuchen. Ich stelle mir das schwierig vor, vor Ort einen Patienten zu besuchen. Können Sie uns da ein bisschen erzählen, wie sich das Hamburger Modell unter der Pandemie verändert hat? Gab es vielleicht auch Erfolge oder Vorteile? Oder haben sich viel weniger Patienten gemeldet, weil sie Angst hatten, aufgrund von Covid-19 ins Krankenhaus zu kommen?

A. Karow (12:40): Jetzt im Moment haben wir ja eine Phase, in der zumindest die Hoffnung besteht, dass wir uns auf Entspannung freuen dürfen. Das war tatsächlich eine sehr schwierige Zeit und insgesamt für die Psychiatrie eine sehr schwierige Zeit. Und wir erwarten natürlich auch noch, dass es so weitergeht. Man spricht da auch von der sogenannten vierten Welle einer Pandemie, die oft nachher erst eintritt, weil die psychosozialen Belastungen, die viele Menschen auch im Nachgang noch treffen werden, natürlich dann für Entsprechendes entstehen oder für Verschlechterung bestehender psychischer Erkrankungen sorgen können. Darüber hinaus kann natürlich auch die Viruserkrankung selbst, das ist ja unter dem Begriff Long Covid Syndrom bekannt geworden, für eigene psychische Symptome sorgen, deren genauen Verlauf und deren Prognose wir noch gar nicht beurteilen können letztlich.

„Wir haben während der Pandemie einen deutlichen Anstieg von Akut-Aufnahmen bei uns in der Klinik festgestellt. Gerade für die Patienten in unseren Behandlungen konnten jedoch bestimmte Notfallsituationen vermieden werden, weil die Teams drangeblieben sind.“

(13:40) Wie war das jetzt während der Pandemie für unsere Nachgehen-Teams. Also insgesamt in der Psychiatrie war es sehr schwierig vor allen Dingen für Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen, aus unterschiedlichen Gründen: Zum einen haben die Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen teilweise noch stärkere Ängste gehabt vor der Ungewissheit, die die Pandemie ausgelöst hat, sich dann zu Hause oft zurückgezogen und manchmal auch aus diesem Grund eine Behandlung eher vermieden. Und entsprechend kam es vielfältig zu Situationen, wo zum Beispiel dann Medikamente nicht weiter genommen worden sind, sich Krankheitsbilder stark verschlechtert haben bis dahin, dass Patienten zu Hause in ihren Wohnungen waren und nicht mehr gut für sich sorgen konnten, also auch die Dinge des alltäglichen Lebens wie essen, trinken etc. nicht mehr so einfach waren. Da sind dramatische Situationen vorgefallen bis dahin, dass eben Einsätze von Notdiensten und Feuerwehr notwendig waren, um die Menschen zu unterstützen.

„Hier konnten gerade für die Patienten in diesen Behandlungen bei uns natürlich bestimmte Notfallsituationen vermieden werden, weil die Teams an denen drangeblieben sind.“

(14:55) Wir haben auch einen deutlichen Anstieg von Akut-Aufnahmen bei uns in der Klinik festgestellt. Wir mussten uns natürlich durchgehend an das Abstandsgebot halten und viele dieser Kontakte mussten auf Telefonkontakte beispielsweise umgestellt werden. Aber das ist natürlich viel einfacher, wenn man sich bereits kennt. Und wenn sich Behandler und Patient kennen und dann eben bestimmte Probleme am Telefon besprechen können. Treffen können dann auch mal draußen im Park stattfinden, beim Spazierengehen unter Einhaltung der Abstandsregeln. Darüber hinaus haben wir relativ schnell auch einen weitgehenden normalen Betrieb im Krankenhaus weitergeführt, indem ambulante Behandlungen auch weiter möglich waren, wenn sie notwendig waren, dann aber natürlich unter Einhaltung der Abstandsregeln, mit Maskenpflicht und so weiter. Ich trage selbst durchgehend seit einem Jahr die FFP2-Maske. Sie ist im Krankenhaus Normalität geworden. Auch, wenn es emotional gelegentlich in der Behandlung einschränkt, ist es trotzdem gut umsetzbar. Und wir sind sehr froh, dass wir dadurch größere Ausbrüche, schwerwiegendere Ausbrüche und Gefährdungen auch damit unserer Patienten verhindern konnten.

CLS: Nun ist es ja so, dass das Hamburger Modell schon seit 14 Jahren am UKE implementiert ist. Und es hat sich ja auch in wissenschaftlichen Evaluationsstudien als wirksamer beziehungsweise effektiver und gleichzeitig auch als weniger kostenintensiv als die Regelversorgung herausgestellt. Dennoch, wie Sie schon vorhin angesprochen haben, unterstützen noch nicht alle gesetzlichen Krankenkassen diese Art der integrierten Versorgung. Wo liegen denn da die größten Hürden und Herausforderungen für Sie?

A. Karow (17:04): Wir finden das natürlich sehr schade und würden uns wünschen, dass sich das ändert. Das Modell ist lokal eingeführt und es gibt auch einige Ableger in anderen Bundesländern. Aber es ist noch nicht flächendeckend in Deutschland eingeführt und vor allem noch nicht in der Regelversorgung angekommen. Insofern würden wir uns das sehr für die Zukunft wünschen, dass hier weitere Veränderungen umgesetzt werden. Warum ist das nicht der Fall? Obwohl, wie Sie sagen, es sich als sowohl effektiv erwiesen hat im Sinne der Wirksamkeit auf die Symptome, aber auch auf Aspekte wie die Lebensqualitätsverbesserung der Patienten und sogar noch kostenneutral ist – und es sogar in Anteilen reduzierend ist, also es reduziert die Kosten ganz deutlich gegenüber der Krankenhausbehandlung bei etwas gestiegenen Kosten für die ambulanten Behandlung, weil diese intensiven Teams natürlich auch deutlich teurer sind als eine sehr viel niederfrequente Behandlung. Das ist aber insgesamt neutral. Insofern wären alle Gründe da, um diese Modelle umzusetzen.

„Es sind Modelle, die eine große Flexibilität des Versorgungssystems und der Strukturen erfordern. …Und wir haben in Deutschland immer noch das Problem, dass die Sektoren oft, gerade was Abrechnungen angeht, sehr getrennt betrachtet werden. …Oft findet zu wenig Vernetzung statt, obwohl sich alle Stakeholder und Beteiligte in dem System diese Zusammenarbeit wünschen würden. So sind es einerseits die Sektorengrenzen. Zum anderen sind das Abrechnungsmodelle, für die dann teilweise ganz neue Strukturen geschaffen werden müssen.“

(18:15) Es sind aber auch Modelle, die eine große Flexibilität des Versorgungssystems und der Strukturen erfordern. Das macht es aus meiner Sicht natürlich umsetzbar, aber das sind wahrscheinlich die Hürden, die am ehesten dagegenstehen. Also es sind sektorenübergreifende Modelle, das heißt, sie verbinden ambulant und stationär. Und wir haben in Deutschland immer noch das Problem, dass die Sektoren oft, gerade was Abrechnungen angeht, sehr getrennt betrachtet werden. Also auf der einen Seite die Krankenhausbehandlung, auf der anderen Seite die ambulanten Behandlungen und davon vielleicht sogar noch mal losgelöst die ambulanten ärztlichen Behandlungen und die ambulanten psychotherapeutischen Behandlungen. Oft findet zu wenig Vernetzung statt, obwohl alle Stakeholder in dem System und Beteiligte sich diese Zusammenarbeit wünschen würden. So sind es einerseits die Sektorengrenzen. Zum anderen sind das Abrechnungsmodelle, für die dann teilweise ganz neue Strukturen geschaffen werden müssen. Also hier findet eine Zuordnung seitens der Krankenkassen statt, entweder eben zu bestimmten Bereichen, sei es jetzt stationär oder ambulant. Und auch die müssen hier neu gedacht und durchbrochen werden. Und wir machen auch die Erfahrung, dass eine strukturelle Umsetzung und Implementierung dann in bestehende Abrechnungssysteme extrem schwierig sind. Das sind strukturelle Hürden.

Seitens der Fachgesellschaften gibt es da deutlich weniger Hürden. Es gibt sowohl international Organisationen, die sich seit vielen Jahrzehnten schon für die Verbreitung dieser Modelle einsetzen. Das ist zum Beispiel die EOAF (European Assertive Outreach Foundation, Anm.d.R.) zu nennen, eine Organisation, die weltweit regelmäßig Kongresse zu dem Themenfeld durchführt. Und unsere Fachgesellschaft speziell in Deutschland ist auch ein Befürworter der integrierten Versorgung oder auch des sogenannten Assertive Community Treatment. Wir haben immerhin ein Modell in Deutschland eingeführt, die sogenannte „Stationsäquivalente Behandlung“, die es seit einigen Jahren gibt. Das Kürzel heißt StäB. Der wesentliche Unterschied ist, dass StäB zeitlich deutlich begrenzter ist. Hier ist es eine Akutversorgung, auch durch das Behandlungsteam, auch im häuslichen Umfeld oder überwiegend im häuslichen Umfeld, aber begrenzt auf einen Zeitraum von nur wenigen Wochen. Die Idee ist, dass die Patienten dann zu Hause so weit verbessert sind, dass sie wieder gesund sind und ambulant weiterbehandelt werden können. Hier machen wir die Erfahrung bei den sehr schwer erkrankten Patienten mit Schizophrenien und anderen Störungsbildern, dass das nicht ausreicht, dass so eine Akutversorgung dann nicht ausreicht, um eine ausreichende langfristige Stabilität zu erreichen in einem ambulanten Behandlungskontext.

(21:12) Insofern wäre aus unserer Sicht die Empfehlung, diese Modelle nebeneinander existieren zu lassen und zu sagen es gibt zum einen eine stationsäquivalente Behandlung oder auch vergleichbare Behandlungsmodelle, die eine akute Krisenintervention im häuslichen Umfeld zur Verfügung stellen. Damit kann man zum Beispiel Notaufnahmen oder Krankenhausaufenthalte verhindern oder verkürzen. Und dann gibt es das Assertive Community Treatment, wozu die integrierte Versorgung nach dem Hamburger Modell gehört, die nachgehend langfristige Komplexbehandlung, die flexibel ermöglicht, dass die Patienten eine tatsächliche Recovery erreichen, also eine Gesundung.

„Bei uns ist es eine Jahrespauschale, die das Krankenhaus für jeden Patienten erhält und durch diese Jahrespauschale ist gesichert, das das Krankenhaus ein hohes Interesse hat, diesen Patienten gesund zu halten, weil sich das Einkommen des Krankenhauses natürlich erhöht, wenn der Patient gesund ist.“

CLS: Was müssen Kliniken, Krankenhausmanager oder Krankenkassen konkret tun, um dieses Hamburger Modell bei sich in ihrem Hause zu implementieren?

A. Karow (22:07): Bei uns in Hamburg ist das Modell über einen sogenannten integrierten Versorgungsvertrag implementiert nach §140a, jetzt heißen sie „besondere Versorgungsverträge“. Das sind Einzelverträge unter Einhaltung bestimmter Indikationskriterien und auch eines Kostenmodells. Bei uns ist es eine Jahrespauschale, die das Krankenhaus für jeden Patienten erhält. Durch diese Jahrespauschale ist gesichert, dass das Krankenhaus ein hohes Interesse hat, die Patienten gesund zu halten, weil sich das Einkommen des Krankenhauses natürlich erhöht, wenn der Patient gesund ist. Wenn der Patient das ganze Jahr im Krankenhaus auf Station ist, dann würde das Krankenhaus einen sehr, sehr großen Verlust machen. Also insofern ist das ein Anreizmodell, das hier sehr günstig gewählt ist – im Sinne der Patienten, der Krankenkassen, aber auch des Krankenhauses. Ich glaube, da hat man eine Win-Win-Situation geschaffen. Das ist ein Vertrag, der uns vorliegt, zu dem man natürlich uns auch anfragen kann, wenn man hier Beratung wünscht oder Informationen und der mit den einzelnen Krankenkassen verhandelt und geschlossen werden muss. Das ist natürlich eine weitere systemische Hürde. Wir haben ja mehr als eine Krankenkasse auf dem Markt. Und entsprechend ist das auch eine Vielfalt, wegen der es einen nicht unerheblichen organisatorischen und Verwaltungsaufwand bedeutet, solche Verträge zu schließen.

CLS: Sie sprachen vorhin schon kurz ihre Behandlungsteams an, die ambulant bei den Patienten zu Hause sind. Von dem Preisgeld des Lohfert-Preises möchten sie zwei E-Bikes kaufen, was in einer autoverstopften Stadt wie Hamburg eine gute Investition ist. Wie kann ich mir das genau vorstellen? Also für welche Fahrten, für welche Behandlungen werden die E-Bikes denn genau genutzt?

A. Karow (24:20): Das war der explizite Wunsch der Behandlungsteams, auch als Alternative zur Nutzung von Autos, die wir auch für die Behandlungsteams haben. Aber wie Sie sagen, wir haben häufig das Problem in Hamburg, dass wir eher zu viel Verkehr als zu wenig Verkehr haben. Und auch im Sinne des ökologischen Fußabdrucks ist das etwas, was zu befürworten ist, dass die Teams dann etwas schneller auf diesen Bikes unterwegs sind und die Patienten damit zu Hause besuchen können und einen schnellen Zugang haben.

„Hat sich vielleicht in den letzten Tagen abgezeichnet, dass Stress war, eine schwierige Situation, Konflikte mit der Familie oder Ähnliches, dann beschließt das Team – der Patient hat vorher sein Einverständnis dazu gegeben – ihn Zuhause aufzusuchen und schwingt sich eben aufs Fahrrad und fährt dann zusammen dorthin.“

Wie sieht das aus? Das ist so, dass die Hausbesuche entweder regelhaft mit dem Patienten vereinbart werden oder in Krisensituationen anfallen können. Also beispielsweise ist es so, dass die Patienten einen Termin in der Klinik vereinbart haben mit ihrem Behandler, aber dann erscheint er oder sie nicht zum Termin, ist auch nicht telefonisch erreichbar. Und es hat sich vielleicht schon in den letzten Tagen abgezeichnet, dass Stress war, eine schwierige Situation, Konflikte mit der Familie oder Ähnliches. Dann beschließt das Team – der Patient hat vorher sein Einverständnis dazu gegeben – ihn Zuhause aufzusuchen und schwingt sich eben aufs Fahrrad und fährt dann zusammen dorthin. Das sind im Regelfall zwei Personen, sie klingeln unten und machen das Angebot, mit dem Patienten im häuslichen Umfeld, was in aller Regel auch gut angenommen wird, ein Krisengespräch zu führen. Sie haben zum Beispiel auch eine Bedarfsmedikation dabei, sie gucken einfach nach dem Rechten, ob alles in Ordnung ist. Und wenn es ganz schwierig ist und der Patient wirklich sehr, sehr akut krank zu Hause sitzt, kann es auch vorkommen, dass das Team dann vor Ort dafür sorgt, dass ein Patient zum Beispiel zu einer Notfallbehandlung aufgenommen wird.

CLS: Wie sehen die nächsten Schritte für das Hamburger Modell aus? Und gibt es irgendetwas, was sie sich für Ihr Projekt noch wünschen?

„Wir würden das Angebot sehr gerne auf weitere Diagnosegruppen, z.B. schwere chronische Depressionen, erweitern.“

A. Karow (26:40): Also für uns sehen die nächsten Schritte so aus, dass wir uns jetzt ein bisschen Rückkehr in die Normalität nach der Pandemie wünschen und gucken müssen, dass die Patienten, die vielleicht während der Pandemie instabiler geworden sind, wieder stabiler werden. Wir führen gerade Verhandlungen hinsichtlich der Ausweitung des Modells auf weitere Diagnosegruppen. Im Moment gibt es ja ein bestehendes Angebot für Menschen mit Psychosen. Dazu gehören eben Schizophrenien oder bipolare Erkrankungen. Und es gibt ein Angebot, was auch spezifisch psychotherapeutisch ist für Menschen mit emotionaler Instabilität, also Borderline-Persönlichkeiten. Wir würden das Angebot sehr gerne erweitern für schwere chronische Depressionen. Wir haben festgestellt, dass Patienten mit schweren Depressionen, die teilweise mehrfach im Jahr erkranken, sehr lange Zeiten auf der Station verbringen und häufig große Ängste haben, wieder nach Hause zurückzukehren, hier einen großen Unterstützungsbedarf haben. Wir sehen hier ein Entwicklungsfeld, dass wir die Menschen gut unterstützen könnten. Vielleicht mit anderen spezifischen Angeboten, als wir das bisher in den beiden anderen Modellen haben, das muss man dann inhaltlich weiterentwickeln.

Darüber hinaus haben wir seit 2017 das Recover-Modell entwickelt. Mit „wir“ meine ich das Behandlungsteam (https://www.uke.de/kliniken-institute/kliniken/psychiatrie-und-psychotherapie/behandlungsangebot/integrierte-versorgung/index.html) , im Wesentlichen auch Herrn Lambert als Leiter und Herrn Gallinat, unseren Klinikleiter. Wir haben eine gestufte, sektorenübergreifende Versorgung aus der integrierten Versorgung heraus entwickelt, auch für andere Störungsgruppen mit verschiedenen Angeboten. Wir sind gerade in Vertragsverhandlungen und versuchen, dieses Modell in die Regelversorgung zu überführen. Das wäre natürlich sehr, sehr erfreulich. Da kann ich jetzt noch keine ganz abschließende Ergebnismeldung machen, würde ich gerne. Aber das braucht noch ein paar Tage. Aber es ist zumindest ein Erfolg hoffentlich in Sicht und das wäre sehr schön, wenn wir es hier schaffen, ein Versorgungsmodell in die Regelversorgung zu überführen.

CLS: Wenn Sie einen Wunsch an die Politik frei hätten – welcher wäre das?

„Ich wünsche mir, dass das ACT-Modell, worauf das Assertive Community Treatment basiert, als Versorgungsform tatsächlich auch in der Regelversorgung gesetzlich verankert wird […] . Insgesamt wünsche ich mir […], dass wir es in der Psychiatrie noch mehr schaffen, ein Umdenken anzuregen hinsichtlich einer sektorenübergreifenden Versorgung in Netzwerken.

A. Karow (29:08): Oh, da gibt es natürlich viele. Ganz konkret in Bezug auf die integrierte Versorgung würde ich mir wünschen, dass das ACT-Modell, das Assertive Community Treatment, als Versorgungsform tatsächlich auch in der Regelversorgung gesetzlich verankert wird. Ich glaube, wissenschaftliche Evidenz für die Wirksamkeit und Effizienz haben wir an der Stelle genug. Insgesamt wünsche ich mir von der Politik, dass wir es in der Psychiatrie noch mehr schaffen, ein Umdenken anzuregen hinsichtlich einer sektorenübergreifenden Versorgung in Netzwerken. Dass wir das schaffen, tatsächlich Komplexbehandlungsangebote für schwer Erkrankte anzubieten, dass hier Umsteuerung stattfindet. Das soll nicht zu Ungunsten anderer, auch leicht erkrankter Patientengruppen gehen. Wir wollen nicht, dass die Menschen anfangen zu chronifizieren. Aber es ist schon wichtig, auch eine Versorgung oder eine Behandlung nicht nur spezifisch auf ein Krankheitsbild auszurichten, sondern auch an einen Schweregrad einer Erkrankung zu adaptieren. Und hier gilt es schon zu sagen, dass Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen viel brauchen, dass Menschen mit leichteren psychischen Erkrankungen, – also so wie wir es als Ärzte verstehen, dass es nicht so ist, dass die kein Leidensdruck haben, aber dass der Verlauf häufig, die Prognose einfach besser ist, die Heilungswahrscheinlichkeit deutlich höher ist – und dass hier andere und weniger intensive Behandlungsmodelle sinnvoll wären. Und entsprechend wünschen wir uns an dieser Stelle auch eine Koordination der Behandlung, was durchaus nicht ganz unumstritten ist, so eine Koordination vorzunehmen. Aber das ist etwas, womit wir zumindest in unserem RECOVER-Modell sehr gute Erfahrungen gemacht haben, und zwar sowohl auf Seiten der Patienten und ihrer Familien als auch auf Seiten der Behandler.

CLS: Vielen Dank für das Interview, Frau Professorin Karow.

Hamburg, im Juni 2021

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*sofern der oder die Erkrankte dem zuvor generell zugestimmt hat.

Foto: Bertram Solcher, Christoph Lohfert Stiftung / Musik im Podcast. www.audiyou.de Markus Hildebrandt / Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wider. Die Christoph Lohfert Stiftung macht sich Äußerungen ihrer Gesprächspartner:innen in Interviews und Beiträgen nicht zu eigen.

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