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„Wir sind als Gesellschaft gefordert!“ - Warum das deutsche Gesundheitswesen die Perspektive der Patient:innen (immer noch) so wenig berücksichtigt

16. Mai 2024

Projekt

In den Debatten über das Gesundheitswesen taucht zunehmend der Begriff  „Patient Empowerment“ auf – der „empowerte“, aktive, gesundheitskompetente Mensch als „Manager“ der eigenen Gesundheit steht für ein neues, partnerschaftliches Rollenverständnis in der Medizin. Aber: Geht das überhaupt?

Darüber sprachen wir zum Start unserer Interviewreihe „Patient Empowerment“ mit Dr. h. c. Helmut Hildebrandt.

Dr. h. c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG
Dr. h. c. Helmut Hildebrandt, Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG

 

Dr. h. c. Helmut Hildebrandt ist Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG in Hamburg und Pionier bei der Entwicklung innovativer Versorgungskonzepte wie die regionalen Gesundheitszentren oder Gesundheitskioske. Zusammen mit zwölf Expert:innen hat er für den Bundesverband Managed Care (BMC) ein Positionspapier zum Thema Patient Empowerment verfasst.

Im Gespräch mit uns erläutert Helmut Hildebrandt u.a.:

  • warum er die Patient:innen als Entscheider:innen für die eigene Gesundheit sieht,
  • was ihn am Begriff der Gesundheitskompetenz stört,
  • welche Verantwortung wir als Gesellschaft für das Gesundheitssystem tragen und
  • inwiefern die aktuellen Vergütungsstrukturen nicht bei Prävention und gesundheitsförderlichem Verhalten helfen.

Helmut Hildebrandt fordert im Einklang mit der WHO: "Make the healthier choice the easier choice“ – Mache die gesündere Entscheidung zur leichteren Entscheidung.

 


Aktuell hat Dr. h. c. Helmut Hildebrandt eine "Petition zum GVSG" (Gesetz zur Stärkung der Gesundheitsversorgung) mit-initiiert. Unter dem Motto "Sichere Versorgung für alle: Nicht ohne Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen und Co.!" fordern die Autor:innen, dass "Gesundheitskioske, Gesundheitsregionen und Primärversorgungszentren in den Gesetzentwurf des GVSG wieder aufgenommen werden"

Hier geht es zur Petition


Das Interview im Überblick:

1:15 – Über die Rolle der Patient:innen im Gesundheitswesen, die Entwicklung von Patient Empowerment seit der Charta von Ottawa (1) und warum nur eine „Zusammenarbeit zwischen Therapeut:in und Patient:in“ zu einem Ergebnis im Sinne der Patient:in kommt, aber genau diese noch oft so schwierig ist.

3:55 – Über den ersten Schritt, Patient:innen in ihre Behandlung aktiv einzubinden, über den patientenbezogenen Nutzen der Behandlung

„Ich muss dem Patienten natürlich darstellen, um was es geht, was für ihn dabei zu gewinnen ist.“

5:15 – Über Patient Empowerment in der gesellschaftlichen Perspektive, über die Frage, wie sich die Politik und Institutionen zum Gesundheitswesen verhalten         

07:14 – „Ich finde, de facto ist der Patient der Therapeut.“ Über Patient:innen als Entscheider:innen und den Begriff Gesundheitskompetenz – im Hinblick auf den einzelnen Menschen, aber auch im Hinblick auf die Aufgabe der Gesundheitseinrichtungen als „gesundheitskompetenten Organisationen“, die Patient:innen „positiv zu unterstützen“.

12:48 – „Make the Healthier Choice The Easier Choice!“ Über die Fähigkeit, gesundheitsförderliche Entscheidungen zu treffen und die Frage, wie die Gesellschaft den Einzelnen dabei unterstützen kann – und es noch viel zu wenig tut.

16:39 – Über den oder die gute Hausärztin, die Frage, wie das Gesundheitssystem in Richtung Gesundheitsförderung, Gesundheitskompetenz und „Shared Decision Making“ umgebaut werden kann und über Patient Empowerment im Krankenhaus           

„Wir … arbeiten ja sehr intensiv mit diesem Momentum des Shared Decision making, also der gemeinsamen Entscheidungsfindung. Und es ist nicht so, wie manchmal befürchtet wird, dass die Patienten dann alles Mögliche wollen und ganz viele Ressourcen verbrauchen wollen. Eher das Gegenteil ist der Fall.  Die Patienten sind da vernünftiger als oft in der Politik und in der Gesellschaft angenommen wird.“

23:28 – Über die Digitalisierung und „digitale Assistenz“ für digitalferne Menschen 

26:02 – Über Deutschland im Vergleich zu anderen Ländern, die Notwendigkeit einer „ergebnisabhängigen Reform für Vergütung“ und die Rolle von Krankenkassen als „Generalunternehmer“ für die regionale Versorgung  

28:56 – Über das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz, Fehlanreize für die Krankenkassen und die Rolle der Politik 

31:19 - Über digitale Bildung und Notwenigkeit hybrider Lösungen

„Das rettet uns im Endeffekt nachher die gesamte solidarische Gesundheitsversorgung.“

32:59 – Zielbild 2045: Über die Herausforderungen der demografischen Entwicklung, die wachsende Bereitschaft, sich gesundheitsbewusst zu verhalten und was dem entgegensteht   

36:50 – In der Zusammenfassung: die wichtigsten Benefits für die Patientinnen und Patienten, aber auch für das Gesundheitssystem zu Patient Empowerment

„Je mehr wir es schaffen, Augenhöhe herzustellen zwischen allen Beteiligten, umso eher ist es auch eine demokratieförderliche Gesamtentwicklung.“

Hamburg, im Mai 2024


Über Dr. h. c. Helmut Hildebrandt

"Dr. rer. medic. h. c. Helmut Hildebrandt ist Vorstandsvorsitzender der OptiMedis AG. Sein Schwerpunkt liegt im Aufbau und Management von Gesundheitsregionen und regionalen Versorgungsinterventionen. So war er ... Geschäftsführer der Gesundes Kinzigtal GmbH, und er ist Geschäftsführer der Gesunder Werra-Meißner-Kreis GmbH in Nordhessen.

Als Co-Vorsitzender der Gesundheitspolitischen Kommission der Heinrich-Böll-Stiftung hat Helmut Hildebrandt an den 2013 veröffentlichten Empfehlungen für eine Reformierung des derzeitigen Anreiz- und Vergütungssystems in Richtung Qualität und Effizienz mitgearbeitet. Er hat drei Amtsperioden im Vorstand der International Foundation for Integrated Care und über mehr als zehn Jahre im Vorstand des Bundesverbandes Managed Care für die Optimierung der Anreize zugunsten besserer Gesundheitsoutcomes für die Patienten, national wie international, mitgewirkt. Er war darüber hinaus Vorstandsmitglied im Deutschen Netz Gesundheitsfördernder Krankenhäuser und wurde 2022 mit dem Vordenker-Award der Initiative Gesundheitswirtschaft, der B. Braun-Stiftung und des Bibliomed-Verlags ausgezeichnet."

Mehr zu Helmut Hildebrandt und OptiMedis: optimedis.de/das-unternehmen/

(1) WHO: Charta von Ottawa, 1986 - Internationale Konferenz zu Gesundheitsförderung

Moderation, Redaktion: Tanja Brunner, Julia Hauck / Produktion: Julia Hauck / Faktencheck: Dr. Thomas Lehnert / Headerfoto: Bertram Solcher für den Lohfert-Preis 2021 / Intro/Outro: www.kurtcreative.de / Äußerungen unserer Gesprächspartner:innen geben deren eigene Auffassungen wider. Die Christoph Lohfert Stiftung macht sich Äußerungen ihrer Gesprächspartner:innen in Interviews und Beiträgen nicht zu eigen.

 


HINTERGRUND

Neue Interviewreihe Patient Empowerment: Starke Patientinnen und Patienten für eine exzellente Medizin 

Bislang liegt das Hauptaugenmerk der Christoph Lohfert Stiftung auf der Förderung von Projekten zur Patientenzentrierung. Dieses Anliegen wollen wir nun mit Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Patient Empowerment ergänzen. Denn das Konzept der Patientenzentrierung weist die aktive Rolle hauptsächlich den Behandelnden zu – sie sind es, die die Bedürfnisse und Interessen der Patient:innen wahrnehmen und berücksichtigen sollen. Patient Empowerment ergänzt dieses Konzept, indem es „die Macht“, den aktiven Part, in die Hände der Patient:innen legt.

Unter Berücksichtigung des soziokulturellen und Bildungshintergrunds sollen Patienten und Patientinnen möglichst gut in der Lage sein, selbständig Entscheidungen zu Gunsten ihrer Gesundheit und im Umgang mit ihren (chronischen) Erkrankungen zu treffen. Im besten Fall

  • agieren sie als „Manager“ ihrer Gesundheits- und oder Krankheitssituation (Selbstmanagement, Prävention und Gesundheitskompetenz),
  • wissen sie, wo und wie vertrauenswürdige Gesundheitsinformationen zu beschaffen und zu bewerten sind (health literacy – Gesundheitskompetenz),
  • fordern sie eine partnerschaftliche Kommunikation (Arzt-Patienten-Kommunikation) und Entscheidungsfindung (Shared decision making) mit den Gesundheitsversorgenden,
  • verstehen sie es, (digitale, stationäre, ambulante) Behandlungs- und Unterstützungsangebote zu recherchieren, einzuordnen und zu nutzen (integrierte Versorgung, ehealth, Digitalität).

All dies ist nicht nur für den einzelnen Menschen gesundheitsfördernd bzw. wirkt sich positiv auf den Umgang mit der eigenen Krankheit aus. Tatsächlich spielt Patient Empowerment auch im Hinblick auf die drei größten Herausforderungen des Gesundheitssystems – Klimakrise, Finanzierung, Fachkräfte - eine bedeutende Rolle: Die Gesundheitsversorgung in partnerschaftlicher Zusammenarbeit zwischen Theraput:innen und Patient:innen wirkt langfristig kostenreduzierend, da Menschen länger gesund bleiben, Krankheiten milder verlaufen, Patient:innen seltener Fehl-, Über- bzw. Unterversorgung erleben, Doppeluntersuchungen und Arzneimittel-Wechselwirkungen seltener anfallen.

Ist der empowerte Mensch also die Lösung für das Gesundheitssystem in der Krise? Warum ist das Konzept des Patient Empowerment dann noch nicht in aller Munde, und wie lässt sich das ändern? In unserer neuen Interviewreihe fragen wir:

  • nach den Chancen und Grenzen des Konzepts,
  • nach den Möglichkeiten das Konzept auf systemischer und auf institutioneller Ebene zu fördern,
  • warum die Digitalisierung eine wesentliche Rolle beim Patient Empowerment spielen kann und
  • welche Projekte dazu beitragen, die Menschen weiter zu empowern

 

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