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Neuer Managementansatz sorgt für zufriedene Pflegebedürftige und Pflegende - und weniger Kosten

21. Oktober 2020

News

Buurtzorg, auf Deutsch: Nachbarschaftshilfe, ist eine gemeinnützige Pflege-Organisation aus den Niederlanden. Dank innovativer Managementstruktur bietet sie eine qualitativ hochwertige, integrierte pflegerische Versorgung an und ist dabei zugleich äußerst effizient und wirtschaftlich. 

Kleine, selbstorganisierte Teams mit festem Patientenstamm pro Pflegekraft haben nicht nur zufriedenere Patienten, sondern auch zufriedenere Mitarbeitende. Studien belegen dies und attestieren darüber hinaus eine höhere Pflege-Qualität bei geringeren Kosten. Der Schlüssel zum Erfolg liegt in der Selbstorganisation der Teams und ihrer Möglichkeit, über die nötigen Leistungen situativ bei den Pflegebedürftigen vor Ort zu entscheiden. Das macht die Pflege nicht nur individueller und menschlicher. Es wird auch einem zentralen Motivationsbedürfnis Rechnung getragen: Dem Bedürfnis nach Autonomie am Arbeitsplatz. Auch deswegen wurde Buurtzorg in den Niederlanden in den letzten Jahren dreimal zum besten Arbeitgeber gekürt.

Mit dem Ansatz „Jeder macht alles“ lassen sich den Patienten feste Betreuungskräfte zuordnen, zu denen sie eine vertrauensvolle Beziehung aufbauen können. Insbesondere für Demenzerkrankte ist dies ein Vorteil. Zudem kann die Pflegekraft besser auf die aktuellen Bedürfnisse ihrer Patienten eingehen. So heißt es auf der Website: „Wir besprechen mit unseren Patient*innen, wie viel Zeit wir miteinander verbringen wollen – und nutzen diese täglich flexibel für genau die Betreuung, die sie in diesem Moment brauchen. Ganz in Ruhe und jederzeit offen für Anpassungen.“ Wir haben mit Co-Geschäftsführer von Buurtzorg Deutschland, Kevin Lussu, über die Vorteile und Herausforderungen der Selbstorganisation in der Pflege gesprochen.


Herr Lussu, Sie sind als Co-Geschäftsführer neu zu Buurtzorg gekommen und waren vorher in der Organisationsentwicklung tätig: Die Organisation in agilen Teams, die für ihre Projekte selbst verantwortlich sind, nimmt zu – was ist die größte Herausforderung bei dieser Form der Arbeit und wie begegnen Sie ihr bei Buurtzorg Deutschland?

Es gibt verschiedene Aspekte für das Gelingen von Arbeit in selbstorganisierten Teams. Die wichtigsten sind aus meiner Sicht folgende:

Die individuelle Veränderung: Selbstorganisiert zu arbeiten bedeutet „anders“ zu arbeiten als man es gewohnt ist und erlernt hat ( klassischerweise in hierarchischen Modellen). Damit erfordert diese Form der Zusammenarbeit von jedem Einzelnen auch eine Veränderung von erlernten Verhaltensmustern. 

Die konsequente Orientierung am Arbeitsrahmen: Die oft postulierte „Freiheit“ in der Selbstorganisation ist begrenzt. Es gibt einen klaren Arbeitsrahmen und klare Regeln, auf die sich alle Beteiligten einlassen und einigen (müssen). Eine hohe Verbindlichkeit diesbezüglich ist essentiell für eine erfolgreiche Zusammenarbeit. Das muss jeder gewährleisten und von anderen einfordern.

Reflexion und Feedback: Ohne (Selbst-)Reflexion und Feedback ist Erfolg auf Dauer nicht möglich. Das gilt für jede Form der Zusammenarbeit, und in sozialen Berufen wird das natürlich auch gelebt. Trotzdem findet hier auch in selbstorganisierten Teams noch ein Lernprozess statt. Die Haltung ist entscheidend! Will ich mich selbst und das Team verbessern, dann muss ich offen für Rückmeldung sein und sollte umgekehrt Feedback geben, um andere und damit das gesamte Team „wirkungsvoller“ zu machen.

Wir unterstützen unsere Mitarbeitenden in diesem Prozess von Anfang an durch professionelles Coaching, individuell und auf Teamebene. Wir schaffen den Raum, Unsicherheit, Unklarheit und Konflikte zu thematisieren und zeigen den Teams auf, wie sie selbst Lösungen entwickeln können. Regelmäßige Impulse für unsere Arbeitskultur sind wichtig, um immer wieder einen Anreiz zur Weiterentwicklung zu geben.

Screenshot der Buurtzorg-Website Deutschland www.buurtzorg-deutschland.de
Screenshot der Buurtzorg-Website Deutschland www.buurtzorg-deutschland.de
 
In Deutschland gibt es verschiedene Qualifikationsstufen für Pflegekräfte, die auch mit einem unterschiedlichen Niveau an Verantwortung einhergehen. Wen stellen Sie ein? Und sind nicht gerade auch die Pflegeassistenten und -helfenden ungemein wichtig in der ambulanten Pflege?

Selbstverständlich. Wir benötigen für alle unsere Standorte Mitarbeitende verschiedener Qualifikationsstufen. Alle sind wichtig, um eine optimale Pflege nach Buurtzorg Maßstäben zu erreichen. Denn: Unsere Teams arbeiten selbstorganisiert und ohne Leitung. Aber natürlich stellen wir auch gerne neue Mitarbeitende mit der Qualifikation Pflegedienstleitung ein, wenn sie bereit sind, in unseren Teams aktiv als Teammitglied tätig zu sein und ihre Erfahrungen und Fähigkeiten an die Teams weitergeben möchten.

Nicht nur die ambulante, sondern auch die stationäre Pflege sucht händeringend Fachkräfte. Vor allem in den Krankenhäusern verlassen viele Pflegende frühzeitig ihren Beruf oder kehren nach einer Pause nicht mehr zurück. Wäre die Selbstorganisation der Stationspflege mit der Möglichkeit, mehr Aufgaben eingeständig zu verteilen und zu übernehmen, hier nicht auch ein Modell?

In den Niederlanden ist das Modell unseres Wissens nach erprobt worden, mit positivem Ergebnis. Auch in Deutschland haben wir bei Vorträgen in Krankenhäusern großes Interesse an Buurtzorg insgesamt, aber auch im Speziellen für die Anwendung in der stationären Pflege gespürt. Selbstorganisation in der stationären Pflege ist denkbar, allerdings wären erhebliche strukturelle Änderungen notwendig, erforderlich wäre zum Beispiel auch die Bereitschaft von Ärzten Selbstorganisation als Arbeitsform zu unterstützen.

Die deutschen Krankenkassen erstatten die dokumentierten und zeitbudgetierten Leistungen nach einem Leistungskatalog – wie rechnen Sie mit den Kassen ab? Wäre es nicht eigentlich auch im Interesse der Kassen, weil viel einfacher, nach dem Zeitaufwand abzurechnen?

Ganz klares „Ja“. Wir sind in Gesprächen mit den Kassen und verfolgen das Ziel – genauso wie in den Niederlanden - nur nach Zeit abzurechnen. Die Komplexität des Systems würde deutlich verringert werden. Das ist für Patienten und Mitarbeiter einfacher und transparenter. Es verursacht deutlich weniger Bürokratie und administrative Aufwände. Dadurch ist es einfacher zu prüfen, für Kassen und für Patienten. Aus den bisherigen Gesprächen mit den Kassen wissen wir, dass diese Form der Abrechnung grundsätzlich unterstützt wird – die Kassen sehen die Vorteile. Man spricht vom triple-win (Pflegekräfte, Pflegebedürftige, Kassen)!

Wie ist Ihr Plan für die nächsten fünf Jahre? Was wünschen Sie sich für Buurtzorg und für die Pflege in Deutschland?

Wir wünschen uns eine Verbesserung der Bedingungen in der Pflege in Deutschland: für Pflegebedürftige und unsere Mitarbeitenden. Dazu wollen wir einen großen Beitrag leisten. Wir wünschen uns für Buurtzorg ein gesundes Wachstum mit vielen Teams in mehreren Bundesländern. Unsere Mitarbeiter sollen zufrieden sein, weil sie wieder freier und selbstbestimmter arbeiten können und mit positiver Energie Pflege auf allerhöchstem Niveau anbieten.

Für die gesamte Branche hoffen wir auf mehrere Träger, die dem Ansatz folgen, damit insgesamt ein Sinneswandel gelingt! Unser Ziel ist es Vertrauen aufzubauen und in fünf Jahren eine andere, bessere Zusammenarbeit zu erreichen mit positiver Wirkung auf alle Beteiligten.

Münster, Hamburg, im Oktober 2020


Foto: Screenshot des Webauftritts von Buurtzorg.de / Äußerungen unserer Gesprächspartner und Autoren geben deren eigene Auffassungen wider. Die Christoph Lohfert Stiftung macht sich Äußerungen ihrer Gesprächspartner in Interviews und Beiträgen nicht zu eigen.

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