„Psychische Erkrankungen werden unsere Gesellschaft langfristig beschäftigen. Sie nehmen generell und besonders in der Pandemiesituation zu. Das Universitätsklinikum Hamburg hat ein zukunftsweisendes sektorenübergreifendes Versorgungsmodell geschaffen: Es verbessert nachweislich langfristig die Situation der Patient:innen – und senkt darüber hinaus die Kosten der Krankenkassen,“ so die Stiftungsvorständin Carolina Lohfert Praetorius über das Projekt, das an der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie am Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf angesiedelt ist - mit Prof. Dr. Martin Lambert und Prof. Dr. Anne Karow in der Projektleitung, Klinikdirektor Prof. Dr. Jürgen Gallinat und Dr. Anja Christine Rohenkohl stellv. für die TACT-Teams.
Ein bis zwei Prozent der Menschen in Deutschland leiden unter einer schweren psychischen Krankheit. Davon erkranken jährlich 120.000 zumeist jüngere Erwachsene an einer Psychose wie Schizophrenie oder einer manisch-depressiven Erkrankung, die wiederum oftmals andere psychische und somatische Erkrankungen nach sich zieht. Diese Mehrfacherkrankungen und die Schwere der Krankheitsbilder führen dazu, dass viele Betroffene in ihrem Alltag stark eingeschränkt sind. Hinzu kommt: Je später die Krankheit erkannt und je häufiger eine akute Psychose durchlebt wird, desto langwieriger ist die Behandlung und desto schwieriger ein »normales« Leben. Das zeigt auch die Tatsache, dass schwer psychisch kranke Menschen in Deutschland durchschnittlich zwanzig Jahre früher sterben als die Allgemeinbevölkerung.
Vielen Betroffenen und ihren Familien fehlt eine angemessene Versorgung: Weniger als drei Prozent erhalten eine evidenzbasierte, studiengestützte Therapie. Allein der Weg bis zur richtigen Diagnose dauert oft lang. Anschließende Therapien greifen nicht ineinander, die Betroffenen werden zwischen stationären und ambulanten Behandlungen alleingelassen. Wechselnde Bezugspersonen erschweren zudem eine ausreichende Vertrauensbildung – Grundvoraussetzung für seelische Heilung. Eine so unzureichende Regelversorgung kann zu medikamentöser Non-Adhärenz, Behandlungsabbrüchen, Rückfällen und Zwangseinweisungen führen. Die Erkrankung verschlimmert sich – die Krankenhausaufenthalte werden häufiger und länger. So steigen nicht nur die Versorgungskosten aufgrund der stationären Aufenthalte, der unkoordinierten Leistungsinanspruchnahme und der »Drehtürpsychiatrie« – auch die gesamtgesellschaftlichen Kosten nehmen durch die erschwerte bis unmögliche Teilnahme am Arbeits- und gesellschaftlichen Leben zu.
Das sogenannte Hamburger Modell der UKE-Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie ändert dies erfolgreich: Mit seiner evidenzbasierten, sektorenübergreifend vernetzenden sowie langfristigen Behandlung ermöglicht es Menschen mit schweren psychotischen Störungen die nachhaltige psychische und somatische Gesundung. Die Patient:innen können (wieder) am gesellschaftlichen Leben teilhaben – kurzum: Sie können mit ihrer Krankheit leben. Zur wissenschaftlichen Überprüfung der Wirksamkeit wurde das Projekt von Anfang an durch die sog. ACCESS-Studien begleitet. Die Ergebnisse für das integrierte Versorgungsmodell fallen durchweg positiv aus: Die behandelten Menschen haben eine höhere Lebensqualität, brechen seltener die Behandlung ab, gehen dafür häufiger und länger einer geregelten Beschäftigung nach – die Kosten für die Krankenkassen und Gesellschaft insgesamt sinken.
Das Hamburger Modell arbeitet mit festen ärztlichen und psychologischen Bezugspersonen in einem sektorenübergreifenden Netzwerk von Kliniken der Erwachsenen- sowie Kinder- u. Jugendpsychiatrie, niedergelassenen Fachärzt:innen und zahlreichen weiteren sozialen Einrichtungen. Kernbestandteil ist die langfristige Behandlung und Begleitung durch sogenannte Assertive Community Treatment (ACT)-Teams – ein evidenzbasiertes Behandlungsmodell, das sich bereits in anderen Ländern als sehr effektiv gezeigt hat. In Hamburg wurde das ACT-Modell zum Therapeutischen ACT – TACT – weiterentwickelt. Das bedeutet, dass auch Psychotherapie angeboten wird; diese erhalten nur 0,8 Prozent der Patienten:innen in der Regelversorgung.
Die TACT-Teams arbeiten interdisziplinär: Psychose-Expert:innen, Ärzt:innen, Psycholog:innen, Sozialpädagog:innen und Genesungsbegleiter:innen betreuen die Erkrankten gemeinsam bei ihrer Behandlung, zu der u. a. folgende Leistungen gehören: Einzelpsychotherapie und Pharmakotherapie, Therapien in den psychiatrischen Ambulanzen des UKE (Gruppentherapie, Soziotherapie, Selbsthilfe, Angebote für Angehörige, Spezialangebote für bipolare Patient:innen, Peer-Begleitung), Zuhausebehandlung, 24/7-Krisenintervention durch ein Nottelefon, engmaschige und kontinuierliche Betreuung durch die teilnehmenden niedergelassenen Psychiater:innen sowie die Koordination sozial(-pädagogisch)er Unterstützungsmaßnahmen.
Finanziert wird das Modell über §140a–g SGB V als besondere Behandlung mit einer Jahrespauschale, die alle Behandlungskosten einschließt. Tatsächlich entstehen in der Regelversorgung etwa 50 Prozent der jährlichen Kosten durch die unkoordinierte Inanspruchnahme von Leistungen. Die TACT-Behandlung vermeidet dies und reduziert zudem erheblich die Anzahl an Tagen mit (teil-)stationären Aufenthalten – allein dadurch werden die Kosten mit Beginn der Behandlung um 30 Prozent gesenkt. Im Verlauf erfolgt eine schweregradassoziierte Staffelung mit weiterer Kostenreduktion bei Erhalt aller Interventionen.
Als Teil des gestuften, integrierten und koordinierten Gesamtversorgungsmodells RECOVER gilt das Hamburger Modell als Zukunftsmodell für die Versorgung von Menschen mit schweren psychischen Erkrankungen in Deutschland. Und so heißt es abschließend in der Bewerbung zum Lohfert-Preis: » … die positiven Rückmeldungen der Patient:innen und ihrer Angehörigen sowie das Erleben der nicht für möglich gehaltenen Verbesserungen und Stabilisierungen des Gesundheitszustands der Betroffenen [sind] der Motor für das Engagement und die Zufriedenheit der Mitarbeitenden. Die Etablierung des Modells, in dem sich Menschen mit (schweren) psychischen Erkrankungen und ihre Behandelnden gegenseitig positiv beeinflussen, ist wohl die größte Errungenschaft.«
Copyright Bilder: Christoph Lohfert Stiftung / Bertram Solcher