Christoph Lohfert Stiftung Logo Christoph Lohfert Stiftung Logo

Interview mit den Leiterinnen des ausgezeichneten Projekts „Therapiebegrenzung: Verbesserung der gemeinsamen Entscheidungsfindung mit onkologischen Patienten“  

Dr. med. Pia Heußner (PH), Leiterin der Psycho-Onkologie an der Medizinischen Klinik und Poliklinik III des Klinikums der Universität München-Großhadern und Prof. Dr. med. Dr. phil. Eva Winkler (EW), Leiterin des Schwerpunkts Ethik und Patientenorientierung am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg

Warum ist Therapiebegrenzung so wichtig?

EW: Mit der modernen Medizin haben sich einerseits die Behandlungsmöglichkeiten erhöht. Andererseits gewinnen dadurch aktive Entscheidungen gegen lebensverlängernde Maßnahmen in der letzten Lebensphase an Bedeutung und zwar wenn die Therapie vor allem Belastung für den Patienten bedeutet. Hierzu gibt es auch eine Empfehlung der Bundesärztekammer.
Gerade bei Patienten im fortgeschrittenen Stadium einer Tumorerkrankung sind Entscheidungen zur Therapiebegrenzung wichtig, um eine Übertherapie am Lebensende zu verhindern. Sie werden auch häufig getroffen und gehen mehr als der Hälfte der zu erwartenden Todesfälle voraus. In einer Untersuchung konnten wir zeigen, dass die meisten Patienten sich am Lebensende für Lebensqualität entscheiden und deshalb eine Therapiebegrenzung wünschen.

Seit wann gibt es das Projekt am Klinikum der Universität München sowie am NCT Heidelberg?

PH: Das Projekt ist aus einem festgestellten Bedarf der Klinikmitarbeiter in München entstanden. Im Jahr 2010 haben wir den Projektantrag gestellt. Zwei Jahre später, im April 2012, konnten wir dann beginnen.

Was sind die Vorteile und Ziele dieses Projekts im Vergleich zu anderen Vorgehen?

Eva Winkler: Wir wissen, dass Entscheidungen zur Therapiebegrenzung nicht einfach sind und eine besondere Herausforderung für Patienten, Angehörige und das medizinische Behandlungsteam darstellen. Sie werden häufig nach Initiative und Regie der jeweils zuständigen Stationsärzte im Rahmen der Möglichkeiten durchgeführt, die im Klinikalltag bestimmt werden. Durch eine Verbesserung der Kommunikation und der Dokumentation der Begrenzungsentscheidungen möchten wir die Schwierigkeiten dieser Situationen und das Auftreten von Konflikten mit der Leitlinie reduzieren. Davon profitieren nicht nur die Mitarbeiter, auch die Patienten und ihre Angehörigen sollen durch ein professionelles und strukturiertes Gesprächsangebot besser über die Prognose und den Verlauf ihrer Erkrankung informiert werden. Dadurch sollen sie in einer realistischen Krankheitsverarbeitung unterstützt werden und die Gefahr, in der letzten Lebensphase mehr Therapielast als Therapienutzen zu erleben, soll reduziert werden. Unser Ziel ist deshalb die Entwicklung einer Leitlinie, die für die behandelnden Ärzte und das medizinische Team eine praktikable Handreichung zum Umgang mit diesen konfliktträchtigen Situationen bietet und in der die Präferenzen der Patienten angemessen berücksichtigt werden. Im Gegensatz zu einer von außen vorgegebenen Leitlinie erfolgte die Meinungsbildung zum Thema hier multiprofessionell innerhalb einer Klinik und stellt damit eine Form der Selbstregulierung der Mandatsträger dar, wie sie für ethisch sensible Themen beispielhaft ist. Ein weiterer innovativer Schritt ist auch, dass erstmals eine Evaluation der praktischen Wirksamkeit einer Ethik-Leitlinie anhand eines Prä-Post-Designs im klinischen Alltag vorgenommen wird.

Was war der Auslöser/Impuls, das Projekt hier im Hause umzusetzen?

PH: Das eingereichte Projekt ist entstanden, weil wir in der Klinik erlebt haben, dass Entscheidungen zur Therapiebegrenzung häufig zu Konflikten sowohl für die Patienten und /oder ihre Angehörigen als auch im Behandlungsteam geführt haben. In einer Vorläuferstudie haben wir gesehen, dass die Praxis der Therapiebegrenzungsentscheidungen verbesserungswürdig ist und Patienten nicht im gewünschten Maß einbezogen werden. Aus dieser praxisbezogenen Notwendigkeit heraus wurde die „AG Therapiebegrenzung“ gegründet und hat den Projektantrag gestellt.

Was sind die zentralen Herausforderungen, um ein nachhaltiges Umdenken in der Therapiebegrenzung zu bewirken?

EW: Zunächst erst einmal ist es wichtig, sowohl die Patienten als auch das medizinische Personal für das Thema Therapiebegrenzung zu sensibilisieren. Manchmal haben sich im Klinikalltag gewisse Routinen etabliert, die nicht immer zielführend sind bzw. herrscht Unklarheit, wie in ethisch schwierigen Situationen verfahren werden soll. Dies kann wie erwähnt zu Konflikten führen, wenn beispielsweise die nahende letzte Lebensphase mit dem Patienten nicht angesprochen wurde und der Patient nicht nach seinen Präferenzen gefragt wurde . Hier wollen wir mit unserer Leitlinie eine Hilfestellung geben. Voraussetzung für die Wirksamkeit der Leitlinie ist selbstverständlich, dass sie im Behandlungsteam bekannt und akzeptiert ist und als nützlich angesehen wird. Eine große Herausforderung ist demzufolge, die Leitlinie so zu gestalten, dass sie im Klinikalltag gut handhabbar ist und einen tatsächlichen Mehrwert bringt.

Wie sehen die „logistischen Konzepte“ des Projektes aus?

PH: Die Leitlinie basiert auf der Arbeit von vier multiprofessionellen Kleingruppen, die jeweils unterschiedliche Themenkomplexe bearbeitet haben: (1) Entscheidungsprozess der Therapiebegrenzung, (2) Kommunikation von Therapiebegrenzungsentscheidungen, (3) Dokumentation und (4) die rechtlichen Grundlagen. Die Textentwürfe wurden in mehrfachen Konsensuskonferenzen diskutiert. In einer finalen Konferenz wurde die Leitlinie unter Beteiligung externer Berater im Juli 2015 verabschiedet. Um ihre Anwendung im klinischen Alltag zu trainieren, wurden die Inhalte der Leitlinie den Mitarbeitern in Schulungen vermittelt und Kommunikationstrainings für die entsprechenden Situationen angeboten. Die Leitlinie wurde anschließend als verbindliche Arbeitsanweisung in das Qualitätsmanagement-System der Medizinischen Klinik III des Klinikums in München aufgenommen.

Bewirkt das Projekt auch eine Intensivierung der abteilungsübergreifenden Zusammenarbeit?

PH: Bereits bei Entwicklung der Leitlinie waren unterschiedliche Berufsgruppen beteiligt (Klinikleitung, Oberärzte, Assistenzärzte, Pflegebereichsleitung, Pflege, Psycho-Onkologie, Qualitätsmanagement). Als externe Berater haben wir den Ärztlichen Direktor des Gesamtklinikums, die Direktorin der Klinik für Palliativmedizin, den Direktor des Instituts für Medizinethik, den Vorsitzenden der Ethikkommission des Klinikums und die Leiterin der Rechtsabteilung um Diskussion und Beratung gebeten. Ein großes Augenmerk sowohl bei der Entwicklung als auch Evaluierung (Befragung von Patienten, Ärzten und Pflegenden) der Leitlinie haben wir darauf gelegt, alle an Therapiebegrenzungsentscheidungen Beteiligten zu Wort kommen zu lassen.

Das Thema der Ausschreibung: Kommunikation

Was benötigt es, um Kommunikationskonzepte in der Praxis der stationären Krankenversorgung umzusetzen?

EW: Es ist wichtig, die notwendigen Rahmenbedingungen im klinischen Alltag zu schaffen, die eine frühzeitige Besprechung und gemeinsame Entscheidung über Therapiebegrenzungen unter Einbeziehung aller Beteiligten ermöglichen. Da diese Entscheidungen häufig in komplexen Situationen stattfinden, sind Orientierungshilfen wie unsere Leitlinie notwendig, die den Prozess der Entscheidungsfindung erleichtern. Sie ist speziell für die Versorgung von hämatologisch/onkologischen Patienten ausgelegt und strukturiert die entsprechenden Entscheidungs- und Kommunikationsprozesse. Damit dies gelingt, müssen die medizinischen Mitarbeiter nicht nur inhaltlich, sondern auch in kommunikativer Hinsicht geschult werden. Und es braucht Vorbilder im klinischen Alltag. Auch aus diesem Grund war es uns so wichtig, Kollegen aus allen Hierarchiestufen vom Chefarzt bis zum Berufsanfänger an dem Konsentierungsprozess zu beteiligen.

Was macht das Projekt in Sachen Kommunikation so einzigartig?

EW: Das Projekt strukturiert und verbessert durch seine patientenorientierte Methode Kommunikationswege und -inhalte sowohl zwischen Arzt/Pflege und Patient als auch im Behandlungsteam. Hierzu zählt die im Projekt entwickelte Leitlinie und die darin enthaltene Festlegung ereignisorientierter Triggerpunkte, an denen die notwendigerweise zu führenden Gespräche und Inhalte wahrgenommen werden sollen. Die Implementierung der Leitlinie wurde durch anwendungsorientierte Kommunikationstrainings vorbereitet, um einen maximalen Nutzen für den Klinikalltag zu gewährleisten.

Welchen Stellenwert erhält Kommunikation in der Krankenversorgung beim Behandlungsteam in Ihrem Hause?

PH: Da die Leitlinie im Wesentlichen auf eine Verbesserung der Kommunikation zielt, erhält diese einen enormen Stellenwert. Indem der Kommunikationsprozess in Therapiebegrenzungssituationen strukturiert wird und bestimmte Gesprächsinhalte festgelegt werden, die im Verlauf einer fortschreitenden onkologischen Erkrankung vermittelt und rechtzeitig angesprochen werden sollen, dient die Etablierung der Leitlinie zum Thema Therapiebegrenzung als innovatives Werkzeug zur Verbesserung der Kommunikation zwischen Arzt und Patient, Pflege und Patient sowie innerhalb des Behandlungsteams. Beispielhaft sei hier eines der Statements aus der Präambel der Leitlinie zitiert: In der Medizinischen Klinik III wird ein Kommunikationsstil gepflegt, der geprägt ist von Respekt und Wertschätzung allen individuellen Gesprächspartnern gegenüber.

Der Mensch im Mittelpunkt

Das Anliegen der Lohfert Stiftung ist es, den Menschen wieder in den Mittelpunkt der Medizin rücken zu lassen – also das Medizinische Prinzip umzusetzen. Was heißt es für das Projekt allgemein, den Fokus auf den Menschen zu richten? Und warum ist dies hier besonders wichtig?

EW: Die Begrenzung lebensverlängernder Maßnahmen ist ein den individuellen Patienten direkt und wesentlich betreffender Umstand und sollte deshalb mit ihm gemeinsam besprochen werden. Eine gemeinsame Entscheidungsfindung dient auch der Wahrung des persönlichen Patientenwillens und soll die Versorgung an die Bedürfnisse der Patienten in der letzten Lebensphase anpassen. Darüber hinaus unterstützt eine frühe und anhaltende Kommunikation mit allen Beteiligten die Krankheitsverarbeitung des Patienten, verbessert seine psychische Stabilität und Lebensqualität und verringert Entscheidungskonflikte.

 LS: Welche Maßnahmen müssen Ihrer Meinung nach ergriffen werden / wurden ergriffen, um diesen Fokus auf den Patienten zu richten? Was muss generell verändert werden?

PH: Möchte man den Willen des Patienten berücksichtigen, so setzt dies zunächst natürlich dessen Kenntnis voraus. Zentral ist also eine offene und einfühlsame Aufklärung des Patienten durch frühzeitige und wiederholte Gespräche, damit dieser seine Situation realistisch einschätzen, eine Position dazu entwickeln und seinen Ärzten mitteilen kann. Das bedeutet konkret, dass es nicht darum geht, wie behandeln wir in unserem Haus die Krankheit X in der Phase Y, sondern, wie möchte der Patienten behandelt werden, nachdem er verstanden hat, welche unterschiedlichen Möglichkeiten wir anbieten können. Generell plädieren wir für das Konzept einer vorausschauenden Behandlungsplanung, zu der auch die Erstellung von Vorausverfügungen gehört für den Fall, dass der Patient einmal nicht mehr entscheidungsfähig ist. Für all dies, also eine gute Kommunikation und transparente Dokumentation, müssen Standards etabliert werden.

Wie wird der Patient in dem Projekt in den Mittelpunkt gestellt? Wie wird Patientennähe in dem Projekt spürbar?

EW: Unser Ziel ist die Kenntnis und der respektvolle Umgang mit dem Patientenwillen und die direkte Einbeziehung des Patienten bei Entscheidungen am Lebensende. Die Leitlinie bietet dabei auch Hilfestellungen für herausfordernde Entscheidungs- und Gesprächssituationen, wie der Umgang mit Patienten aus anderen Kulturen; Patienten, die eine nicht-indizierte Maximaltherapie wünschen sowie Patienten, die nicht über ihre Prognose informiert werden wollen.

LS: Die Sichtweise „Der Mensch im Mittelpunkt“ meint auch, der Blick auf die Menschen, die Mitarbeiter, die das Projekt entwickeln und tragen, umsetzen und leben. Wer sind die Menschen hinter dem Projekt? Wer hat das ausgezeichnete Projekt maßgeblich initiiert und mit entwickelt? Was oder wer war der Motor dahinter?

PH: Initiiert und geleitet wird das Projekt durch uns beide. Wir haben im Rahmen der „AG Therapiebegrenzung“ am Universitätsklinikum München den Projektantrag gestellt und eine Förderung durch die Deutsche Krebshilfe erzielt. Ich bin Oberärztin an der Medizinischen Klinik III des Klinikums der Universität München und leite dort die Psycho-Onkologie – ein Bereich der Klinik, der den Patienten psychologische Hilfestellung im Umgang mit der Krebserkrankung bietet.

EW: Ich leite als Oberärztin am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) der Universitätsklinik Heidelberg den Schwerpunkt “Ethik und Patientenorientierung in der Onkologie“. Neben der ärztlichen Tätigkeit habe ich meinen Forschungsschwerpunkt in der Medizinethik. Im Projekt unterstützt werden wir von unseren Wissenschaftlichen Mitarbeitern Elena Jaeger, Dr. rer. med. Katsiaryna Laryionava, Dr. Katja Mehlis und Dr. med. Friederike Mumm.

LS: Die Umsetzung des Projekts ist u.a. begleitet von den Schwerpunkten Kommunikation, Schulung und Schnittstellenverbesserung. Was sind die größten kommunikativen Herausforderungen bei der Vermittlung der Bedeutung der Leitlinie – in die Klinik hinein, aber auch im Hinblick auf die Öffentlichkeit?

EW: Wir wollen mit der Leitlinie für die häufig herausfordernde Situation von Therapiebegrenzungsentscheidungen sensibilisieren und eine Orientierung für das medizinische Personal bieten, um mögliche Belastungen durch konfliktträchtige Entscheidungen zu reduzieren. Dabei liegt uns besonders die Zusammenarbeit aller Betroffenen – Patient, Angehörige, Arzt und Pflege am Herzen. Für manche Mitglieder in unseren Behandlungsteams stellt das eine neue Ausrichtung in der Schwerpunktsetzung der täglichen Arbeit dar und deshalb ist es nicht immer einfach, alle von unserem Konzept zu überzeugen. Auch erfordern diese Gespräche zu Therapiebegrenzungssituationen eine eigne stabile Haltung zu den existentiellen Themen des Lebens wie dem Sterben. Hier liegt die Herausforderung in der Schulung der Inhalte und kommunikativer Fähigkeiten der Mitarbeiter. Es ist jedoch auch eine Frage der eigenen Haltung und Einstellung zu der Aufgabe, den Patienten rechtzeitig auf das Lebensende vorzubereiten. Leider sehen nicht alle Ärzte die vorausschauende Behandlungsplanung als ihre Aufgabe an. Um die Gefahr der Nichtakzeptanz zu reduzieren, haben wir bei der Entwicklung der Leitlinie alle relevanten Personenkreise einbezogen. Die Evaluation und ggf. Anpassung der Leitlinie soll ebenfalls dazu beitragen, dass sich möglichst alle Beteiligten darin wiederfinden und sie einen tatsächlichen Nutzen im Klinikalltag bietet. Ist das der Fall, soll dieser Nutzen nicht nur der Klinik in München vorbehalten bleiben, sondern ebenfalls anderen Einrichtungen zugutekommen. Dafür müssen wir den Nutzen der Leitlinie evaluieren und kommunizieren – z.B. auf Fachtagungen und in Arbeitskreisen.

Wie ist die Resonanz darauf?

PH: Explizit positive Resonanz haben unser Projekt und die entwickelte Leitlinie durch den Ärztlichen Direktor des Gesamtklinikums Großhadern erfahren, indem dieser den Wunsch nach Adaption der Leitlinie über die Med III hinaus auf alle Kliniken in Großhadern geäußert hat. Auch für das NCT Heidelberg sind eine Adaption und Implementierung bereits in Planung. Auf wissenschaftlichen Veranstaltungen und Fachkongressen löst die Vorstellung des Projekts sowie der Leitlinie rege Diskussionen, Interessensbekundungen und Fragen zur Übertragbarkeit auf eigene Institutionen aus.

Patientensicherheit

Warum ist das Projekt wichtig für die Patientensicherheit?

EW: Die Diskussion über Therapiebegrenzung wird oft bestimmt von der Sorge der Patienten vor einer Übertherapie am Lebensende und einer Weiterbehandlung gegen den Willen des Patienten. Dieser Sorge vor belastenden medizinischen Maßnahmen, die das Sterben möglicherweise unnötig hinauszögern und dem Wunsch vieler Patienten nach Lebensqualität in der letzten Phase ihrer schweren Erkrankung möchten wir mit unserer Leitlinie begegnen. Und gerade in Akutkrankenhäusern der Maximalversorgung mit einer Vielzahl von wechselnden diensthabenden Kollegen und einer extremen Arbeitsdichte ist die strukturierte, eindeutige und auffindbare Dokumentation von getroffenen Entscheidungen von großer Bedeutung.

Wie trägt das Projekt zur Patientensicherheit bei?

PH: Für jeden Arzt hat die Patientensicherheit höchste Priorität. Das ethische Gebot des primum nil nocere – zu allererst keinen Schaden anrichten – ist Grundsatz jedes ärztlichen Handelns. Eine Therapiebegrenzung kann mit dem Patientenwunsch oder der ärztlichen Einschätzung einer infausten Prognose gerechtfertigt werden. Wenn der Arzt zu der Einschätzung kommt, dass eine Therapie oder Intervention das erwünschte Ziel nicht erreichen kann oder das gesteckte Ziel sinnlos wird, sprechen wir von „fehlender medizinischer Indikation“. In unserer Leitlinie haben wir deshalb die Handlungsempfehlung aufgenommen, dass eine nicht indizierte Therapie dem Patienten nicht angeboten oder durchgeführt werden soll, um ihn vor wirkungslosen oder sinnlosen Behandlungen zu schützen.

Qualitätssicherung

Was sind die entscheidenden Kriterien hinsichtlich Qualität im Bereich der Leitlinie?

EW: Unsere Leitlinie soll dazu beitragen, dass sich Therapiebegrenzungsentscheidungen verbessern. Wir setzen dabei vor allem an den Aspekten der Kommunikation und Dokumentation dieser Entscheidungen an. Um dies beurteilen zu können, untersuchen wir in einem Prä-/Post-Design, ob sich durch die Leitlinie folgende Zielkriterien verbessert haben: (1) Kenntnis und Berücksichtigung des Patientenwillens, (2) Reduktion von Entscheidungskonflikten, (3) Verbesserung der Transparenz und Nachvollziehbarkeit von Entscheidungen durch standardisierte Dokumentation und (4) Reduktion der Belastungen des Behandlungsteams. An die Leitlinie selbst haben wir natürlich auch hohe Qualitätskriterien gelegt und diese analog eines S3-Leitlinienprozesses, aber eben institutsintern (Mandatsträger, Repräsentation, Expertise, Konsentierung), entwickelt.

LS: Welche besonderen Maßnahmen zur Qualitätssicherung wurden ergriffen?

PH: Um eine Verbesserung in den genannten Zielkriterien zu erreichen, haben wir 20 Handlungsempfehlungen und drei Statements in die Leitlinie aufgenommen. Diese wurden im Anschluss an die Vorarbeit der Kleingruppen der Mitglieder der Med. III zu vier verschiedenen Themenkomplexen in fünf Konsensuskonferenzen konsentiert und verabschiedet. Nach der redaktionellen Erstellung eines Gesamttextes wurde dieser externen Experten der Palliativmedizin, Medizinethik und Medizinrecht sowie der Klinikdirektion zur Diskussion vorgelegt. In einer finalen Abschlusskonferenz mit allen Beteiligten, die am Entstehungsprozess der Leitlinie partizipiert haben, wurden die Ergebnisse nochmals diskutiert und die finale Leitlinie verabschiedet. Die Leitlinie wurde anschließend anhand von praktischen Fallbeispielen in Kommunikationstrainings mit den Mitarbeitern geschult und evaluiert. Abschließend wurde die Leitlinie als Verfahrensanweisung in das Qualitätsmanagementsystem der Med. Klinik III übernommen.

Auf welche klinischen Strukturen traf das Projekt anfänglich? Hat das Projekt zu Prozessveränderungen geführt?

EW: Wir befinden uns derzeit in der letzten Phase des Projektes, die untersucht, inwieweit die Leitlinie zu Prozessveränderungen geführt hat. Anhand eines Vergleichs vor und nach Einführung der Leitlinie soll ihre praktische Wirksamkeit im Klinikalltag evaluiert werden. Bereits jetzt lässt sich erkennen, dass die bisher absolvierten Schritte der Studie (Baseline-Erhebung, Entwicklung der Leitlinie sowie Implementierung und Schulung der Leitlinie) eine Sensibilisierung bezüglich des Themas Therapiebegrenzung bei den Beteiligten in der Med. III. erzeugt haben. Dies wird sich voraussichtlich in den Ergebnissen der Nacherhebung niederschlagen. Die entwickelten Dokumentationsformulare und -materialien finden Anwendung im Klinikalltag. Entsprechend unserer Zielstellung erwarten wir eine Veränderung in der Kommunikation und Dokumentation von Entscheidungen zur Therapiebegrenzung.

Wie kann die Leitlinie die Prozessqualität verbessern?

PH: Die Leitlinie strukturiert den Entscheidungs- und Kommunikationsprozess in Therapiebegrenzungssituationen. Diese prozessorientierte Ausrichtung dient sowohl dem Behandlungsteam als auch dem Patienten in mehrfacher Hinsicht, in dem durch die konkreten Handlungsempfehlungen Entlastungen sowohl für das Behandlerteam als auch in Konsequenz für den Patienten geschaffen werden.

Status quo und Ausblick

Welche Erfolge konnten Sie bereits erzielen?

EW: Wir freuen uns über das große Interesse an unserem Projekt und der Leitlinie, das uns regelmäßig bei deren Vorstellung auf Fachkongressen entgegengebracht wird – nicht nur in Deutschland sondern beispielsweise auch von der Jahrestagung der amerikanischen Krebsgesellschaft (ASCO) wurde darüber berichtet. Sehr positiv empfinden wir auch die Nachfrage anderer Kliniken nach Adaption für deren Institutionen. Der größte Erfolg für uns wäre natürlich, dass unser Projekt Therapiebegrenzungsentscheidungen nachhaltig verbessern hilft und somit direkt den Patienten zugutekommt. Als diesjähriger Preisträger des Lohfert-Preis ausgezeichnet zu werden ist für uns eine besondere Ehre und zeigt uns, wie relevant das Thema auch für die Öffentlichkeit ist.

Wie geht das Projekt in den nächsten Monaten weiter? Welche Schritte planen Sie für die nächsten Monate?

PH: Wir befinden uns derzeit in der Nachuntersuchung, um die Effekte der Leitlinie auf die Entscheidungs- und Gesprächspraxis im klinischen Alltag zu evaluieren. In dieser Phase der Studie werden die Schritte der Voruntersuchung wiederholt, das heißt, wir erfassen zum einen die Häufigkeit und Dokumentation von Therapiebegrenzungsentscheidungen und zum anderen befragen wir die am Entscheidungsprozess Beteiligten (Arzt, Patient, Pflege).

Was sind die mittel-, was die langfristigen Ziele?

EW: Die derzeit laufende Nachuntersuchung dient als Grundlage der Erfolgsbeurteilung der Leitlinie bezüglich Kenntnis und Berücksichtigung des Patientenwillens, Reduktion von Entscheidungskonflikten und damit auch Reduktion der Belastung des Behandlungsteams durch Entscheidungskonflikte. Im Anschluss daran erfolgt die Auswertung des Gesamtprojekts, welches Ende 2017 abgeschlossen sein wird.

Können Sie schon sagen, in welchen Bereichen Sie das Preisgeld in Höhe von 20.000 Euro einsetzen, wie sie es verwenden möchten? Wie kann das Preisgeld Ihr Projekt für die Zukunft ausbauen?

EW: Die Preismittel sollen für die Anpassung der Leitlinie auf der Basis der Evaluationsergebnisse verwendet werden, da für diesen Schritt keine Fördermittel vorliegen. Des Weiteren möchten wir eine Weiterentwicklung als klinikweite Leitlinie in Großhadern umsetzen, sowie eine Adaption auf andere Kliniken. Für das NCT Heidelberg befindet sich dieser Schritt bereits in Planung, für andere Häuser liegen uns konkrete Interessebekundungen vor. Neben dem Einsatz als Personalmittel für die genannten Weiterentwicklungsoptionen der Leitlinie inklusive Implementierung (Schulungen des Klinikpersonals) würde das Preisgeld als Reisemittel verwendet werden, um auf nationalen und internationalen wissenschaftlichen Veranstaltungen und Fachkongressen die Leitlinie vorzustellen und zu diskutieren.

Thema des Lohfert-Preises 2016: ”Konzepte zur Entwicklung der Kommunikationskompetenz in der stationären Krankenversorgung”. Das Interview wurde per E-Mail am 8. Juni 2016 geführt.

zurück nach oben